Uiguren

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Arabisch-uigurischer Schriftzug mit der Bedeutung „uigurisch“

Uiguren (auch Uighuren oder Uyghuren; Eigenbezeichnung: uigurisch ئۇيغۇر Uyghur; chinesisch 維吾爾族 / 维吾尔族, Pinyin Wéiwú'ěrzú)[A 1] sind eine turksprachige Ethnie, die ihren Siedlungsschwerpunkt im Gebiet des ehemaligen Turkestans[A 2] hat, insbesondere im heutigen chinesischen Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang.

Die Uiguren sind nahezu alle Angehörige des Islam. Überwiegend handelt es sich bei ihnen um Oasenbauern, Kleinhändler und Handwerker. Sie führen Traditionen fort, die ihre Ursprünge im turko-persischen Zentralasien haben. Im 20. Jahrhundert wurden sie stark vom sowjetischen Zentralasien beeinflusst und passten sich den wechselnden äußeren Regimen über ihr Land an, die von nur kurzzeitig erfolgreichen Unabhängigkeitsbewegungen unterbrochen wurden.[1]

Die meisten der schätzungsweise weltweit über 15 Millionen (Stand: 2010)[2] Uiguren leben heute in dem im Süden Xinjiangs gelegenen Tarim-Becken.[1] Sie stellen die Mehrheitsbevölkerung in dieser Region, die 1759 durch die Qing erobert wurde und danach letztendlich unter eine locker gehaltene chinesische Herrschaft unter den Qing geriet. Zwar wurde das Tarim-Becken über mehrere Jahrhunderte hinweg vorwiegend von einer turksprachigen Bevölkerung besiedelt, doch erfolgte die Formulierung und formelle Begründung ihrer modernen Identität unter dem Ethnonym „Uiguren“ erst im 20. Jahrhundert.[1] Auf einer Konferenz in Taschkent 1921 nahmen Vertreter der Neu-Uigurisch sprechenden Bevölkerungsteile Westturkestans, deren Sprache nicht oder nur zu geringem Anteil direkt auf das Altuigurische zurückgeht, für sich den Namen „Uiguren“ an.[3][4]

Im 20. Jahrhundert verschärften die aufeinanderfolgenden chinesischen Staaten mit der Zeit ihre Herrschaft über das uigurisch besiedelte Land.[1] Seit 1949 erhöhte die Volksrepublik China den Prozentsatz der Han-Chinesen in Xinjiang mit einer aggressiven Siedlungspolitik von 5 % auf 40 %[5] und formte aus dem Land im 21. Jahrhundert eine streng überwachte assimilationistische Siedlerkolonie, die von einer von Han-Chinesen dominierten Bürokratie regiert wird.[1]

Eskalation der Repression der Uiguren in China seit 2014[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Insbesondere seit 2017 geht die chinesische Regierung unter Berufung auf die Notwendigkeit größerer innerer Sicherheit mit einer besonders tiefgreifenden und repressiven Strategie gegen Uiguren in Xinjiang vor, zu der unter anderem Masseninternierungen, umfassende Umerziehungsmaßnahmen und erhöhter Druck auf die uigurische Diaspora gehören.[6][7]

Vonseiten verschiedener westlicher Wissenschaftler wird als Ziel der chinesischen Politik in Xinjiang die „Sinisierung“ indigener Kulturen und die vollständige „Transformation“ der Gedanken und Verhaltensweisen der uigurischen Gemeinschaft beschrieben,[8][9] sowie eine „bewusste Politik des Auslöschens des uigurischen kulturellen Gedächtnisses“ (Rachel Harris, SOAS University of London),[10] die „Auslöschung eines einheimischen Wissenssystems und der die Grundwerte des uigurischen Lebens ausmachenden Grundelemente: Sprache, Religion und Kultur“ (Darren Byler, University of Colorado Boulder)[11] und der Versuch, die Erfahrungen und Identitäten der Uiguren von ihrer Landschaft zu trennen (Rian Thum, University of Nottingham).[12] Der in den USA ansässige Thinktank Newlines Institute for Strategy and Policy veröffentlichte in Zusammenarbeit mit dem in Kanada ansässigen Raoul Wallenberg Centre for Human Rights 2021 einen Bericht von über 30 internationalen Fachleuten,[13][14] der der chinesischen Führung vorwarf, die staatliche Verantwortung für einen anhaltenden Genozid gegen die Uiguren zu tragen und gegen die Genozidkonvention von 1948 zu verstoßen.[14][15][15][16] Ein von Human Rights Watch und der Universität Stanford 2021 erstellter Bericht[17] wirft der chinesischen Regierung vor, nahezu alle in Art. 7 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) aufgeführten Verbrechen gegen die Menschlichkeit an den Uiguren und anderen turkstämmigen Muslimen in Xinjiang begangen zu haben und für eine „weit verbreitete und systematische Politik der Masseninternierungen, Folter und kulturellen Verfolgung verantwortlich“ zu sein.[18][19]

Von politischer Seite ordneten verschiedene westliche Staaten im Jahr 2021 das Vorgehen des chinesischen Staates gegenüber den Uiguren Xinjiangs offiziell als „Genozid“ ein.[20][21][22] Nach Auffassung der deutschen Bundesregierung zielen die Maßnahmen der chinesischen Politik auf die „Sinisierung“ der religiösen und kulturellen Identitäten der Minderheiten in Xinjiang und Tibet ab.[8][23] Im März 2021 verhängten die USA, Großbritannien, Kanada und die Europäische Union miteinander koordiniert Sanktionen über ehemalige und amtierende chinesische Funktionäre aufgrund mutmaßlicher Menschenrechtsverstöße in Xinjiang.[24] Die UNO-Menschenrechtskommissarin fordert eine gründliche und unabhängige Bewertung der Berichte über willkürliche Internierungen, Misshandlungen, sexuelle Gewalt und Zwangsarbeit in Xinjiang.[25]

Die Vereinten Nationen riefen im August 2018 China dazu auf, die Masseninhaftierungen in den damals von China geleugneten Einrichtungen zu beenden[7] und versuchten seit 2018, die Gewährleistung des uneingeschränkten Zugangs zur Region Xinjiang für UN-Vertreter mit der VR China auszuhandeln, um den Vorwürfen von an Uiguren und anderen muslimischen Minoritäten in Xinjiang begangenen Menschenrechtsverletzungen vor Ort durch eine Untersuchung nachzugehen.[26] Die VR China lehnte die Durchführung einer Untersuchung durch UN-Vertreter in Xinjiang offiziell ab.[18][27][28] Die UNO-Menschenrechtskommissarin forderte eine gründliche und unabhängige Bewertung der Berichte über willkürliche Internierungen, Misshandlungen, sexuelle Gewalt und Zwangsarbeit in Xinjiang[25] und gab Ende August 2022 die Veröffentlichung eines Berichts ihres Büros zur Menschenrechtslage in Xinjiang frei, der mögliche Verbrechen der chinesischen Führung gegen die Uiguren und andere ethnische Minderheiten einräumte[A 3][29] und den Vorwurf „schwerer Menschenrechtsverletzungen“ in Xinjiang erhob, die dem Bericht zufolge Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen könnten.[A 3][30][31][32][33]

Namensbedeutung (Uiguren des Mittelalters)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Auf die Bezeichnung „Uiguren“ als Ethnonym beziehen sich erstmals die Chinesen während der Han-Dynastie.[34] Auch Chroniken, die von der Nördlichen Wei-Dynastie im dritten Jahrhundert v. Chr. erstellt wurden, sowie die Tang (618–907) und die Song (960–1279) sprachen von Uiguren.[34] Während die Tang sich im 7. Jahrhundert klar auf die Vorfahren der heutigen Uiguren beziehen, gibt es noch immer einige Diskussionen über die Erwähnungen durch die Han und die Nördlichen Wei, ebenso wie über die griechischen und iranischen Quellen vor unserer Zeitrechnung.[34]

Zu Beginn des 8. Jahrhunderts gingen die Uiguren aus der großen Konföderation turkischer Stämme mit gefestigter eigener politischer Identität hervor, die die Herrschaft über die Steppenregion anstrebten und in den folgenden sechs Jahrhunderten eine aufsehenerregende Machtentfaltung erlebten, indem sie zunächst ein Steppenreich etablierten, nach dessen Auflösung in den Grenzgebieten zwischen China und der Steppe ein wirtschaftlich ausgerichtetes Königreich etablierten und sich schließlich der Steppen-Stammeskonföderation unter Dschingis Khan anschlossen, bis ihre Existenz als politische Einheit nach dem Untergang des Mongolischen Reiches Mitte des 14. Jahrhunderts ein Ende fand. Bei der Bezeichnung „Uiguren“ handelte es sich in diesen mittelalterlichen Zeiten nicht um eine ethnische, tribale oder territoriale Bezeichnung, sondern um eine politische Identität.[35]

Die Uiguren waren laut chinesischen Quellen eine turksprachige Stammesgruppe innerhalb der Steppen-Stammeskonföderation der Tiele,[35][36][37][38] in der sie die – wenn auch nicht unbestrittene – Vorherrschaft innehatten und deren östlicher Zweig der Toquz oġuz in türkischen und uigurischen Runeninschriften im 8. Jahrhundert in verschiedenen Zusammensetzungen – Üch Oġuz („Drei Oghusen“), Sekiz Oġuz („Acht Oghusen“) und Toquz Oġuz („Neun Oghusen“) – erwähnt wird.[36]

Grabstein mit der Šine Usu-Inschrift (Foto: 1909, oberes Bruchstück, von den vier Himmelsrichtungen aus betrachtet).[39]
Tamga der Yağlaqar.
In der Nachfolgeschaft des Türk-Reiches verwendeten auch die Uiguren alttürkische „Runen“-Schrift. Die mit 50 Zeilen umfangreichste der erhaltenen „Runen“-Inschriften ist die der Šine Usu-Stele (errichtet 759).[40] Sie zählt zu den bedeutendsten Primärquellen der frühen Geschichte der mittelalterlichen Uiguren[35] und enthält eine in anderen (chinesischen) Quellen teils fehlende Beschreibung über die inneren und äußeren Kriege der Yağlaqar zu Erlangung und Erhalt der Macht (739–759),[41] darunter die Kriege der Uiguren mit den Türk-Khaganaten der Jahre 742–744.[40][42] Die Yağlaqar werden darin als Herrscher über die on uyğur („Zehn [Stämme] Uigur“) und toquz oğuz („Neun [Stämme] Oghuz“) für eine Dauer von 100 Jahren beschrieben.[41] Aufgrund der Phrase on uyγur („zehn Uigur“) in der Inschrift und in anderen Quellen wurde argumentiert, dass sich die eigentlichen Uiguren aus zehn Untergruppen zusammengesetzt haben könnten.[43]

Als die Uiguren zunächst 742 – in Allianz mit den Stämmen der Basmıl und Karluken – das östliche oder zweite Reich der Türk (682–743/744)[36][37] und daraufhin – diesmal zusammen mit den Karlucken und Oghusen – das Kaganat der Basmıl (742–744) stürzten, womit sie das Uigurische Kaganat (744–840) begründeten,[36] wurden sie zum bekannten Gegenstand der weltgeschichtlichen Ereignisse.[37] Schon längere Zeit bekannt waren sie allerdings den Chinesen, deren Berichte die fast ausschließlichen Quellen über die uigurische Frühgeschichte liefern. Der Name der Uiguren wird in den alttürkischen Runeninschriften zwar bereits erwähnt, doch sind erst aus den uigurischen Inschriften aus der Zeit des Uigurischen Kaganats etwas detailliertere Informationen über Geschichte und Kultur zu entnehmen, wie etwa ihre sich aus den chinesischen Quellen kaum zu erschließende Zugehörigkeit zu den turksprachigen Völkern.[37]

Die Stammesföderation der Tiele wird oft auch mit dem aus den Orchon-Inschriften bekannten Stammesbund der Tölös (auch: Tölis, Töliş) in Verbindung gebracht, bei denen es sich wiederum um die Nachkommen des von den Chinesen als Gaoche bezeichneten Stammes handeln soll, der in chinesischen Quellen bereits im 5. Jahrhundert erwähnt wird.[37]

In chinesischen Quellen wurde den Uiguren des Uigurischen Kaganats auch die chinesische Bezeichnung Jiuxing (九姓) gegeben.[44] Diese Bezeichnung Chiu hsing (dt. etwa „neun Familiennamen/Sippen/Clans/Völker“) entspricht offenbar den Toquz Oğuz der alttürkischen Inschriften und scheint als „Neun Stämme“ verstanden werden zu können.[37] Die chinesische Bezeichnung 九姓 steht möglicherweise in Verbindung zu dem türkischen Ethnonym Toquz Oğuz (dt. etwa: „neun (Stammes)-Verwandte“), das aus muslimischen Quellen bekannt ist.[44][45] Die turksprachige Bezeichnung Tokuz Oghuz wurde in muslimischen Quellen (als „tġzġzz“) wohl aus turkischen Quellen entlehnt und entspricht – allerdings nicht ganz ohne Probleme – der Bezeichnung der Konföderation in chinesischen Quellen als Chiu hsing.[46] Die muslimischen Quellen bezogen die Bezeichnung Toquz Oğuz dabei sowohl auf die Uiguren des Uigurischen Kaganats in der heutigen Mongolei, als auch auf die Uiguren, die später die dem Uigurischen Kaganat nachfolgenden diasporischen Uiguren-Staaten bildeten.[44][46]

Nach der vom Turkologen James Russel Hamilton angebotenen Etymologie gab es eine als tokuz oġuş („Neun Stämme“) bezeichnete Stammeskonföderation, wobei der Begriff oġuş eine Organisationsform unterhalb des Stammes (bod) bezeichnete, also möglicherweise als Clan aufgefasst werden könne. Während der häufigen Verwendung als regelrechter Name für die Föderation habe eine phonetische Fernassimilation von tokuz oġuş zu tokuz oġuz stattgefunden, wovon letztendlich nur der hintere Namensteil übrig geblieben sei. Einer dieser neun Stämme sollen die Uiguren gewesen sein, die sich ihrerseits in die sogenannten on uyġur – die zehn Uigurenstämme oder Clans – aufteilten.[37] Der Name „Uigur“ scheint nach Hamilton eine Umschreibung von „Uroġ/Uġor/Oġur“ zu sein, ein Ethnonym, das mit dem oghurischen Zweig der Turksprachen in Verbindung gebracht wird.[47] Die altuigurische Sprache, die im 8. Jahrhundert während des Uigurischen Kaganat gesprochen wurde, ist die gleiche Sprache wie in den Orchon-Jenissei-Inschriften, heute alt-Türki genannt. Die alttürkische Literatursprache, die vor dem 8. Jahrhundert verwendet wurde, soll der uigurischen Literatursprache entsprechen, die bis zum 14. Jahrhundert in den Türki-Bevölkerungen allgemein gebräuchlich war.[48]

Heutige Volksgruppe (Uiguren der Modernen Geschichte)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Uiguren in ihrem Hauptsiedlungsgebiet
Alte Uigurinnen in Kaxgar mit bedeckten Köpfen (2008)
Uiguren aus Turpan mit unter der doppa kurz geschorenem Haar (2008)
Uigurische Kinder in der Altstadt von Hotan (2009)
Uiguren in Kaxgar
Zwei Bauern auf einem Basar (1986)
Ein Jäger mit Schaffellmütze (2005)

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es keine sich selbst als „Uiguren“ bezeichnende Bevölkerungsgruppe, doch herrschte im Tarimbecken bereits seit mehreren Jahrhunderten eine turksprachige Bevölkerung vor. Intellektuelle und Aktivisten aus dieser Bevölkerung, die durch verschiedene Gemeinsamkeiten verbunden war – wie islamischer Glaube, eher sesshafte als nomadische Lebensweise, Ost-Turki-Dialekte als Muttersprache und historischer Hintergrund in der Qing-Provinz Xinjiang – versuchten zu diesem Zeitpunkt, für sich eine neue, ethnonationale Identität zu begründen.[1] Nachdem 1910 Uiguren im russisch kontrollierten Ferghana und Semiretschje die historische Verbindung mit den mittelalterlichen Uiguren für sich angenommen hatten, wurde die Bezeichnung „Uiguren“ auf einer Konferenz in Taschkent 1921 auch von der „Arbeiter- und Bauernorganisation von Altishahr[A 4] und der Dsungarei“ angenommen, die sich nun „Organisation der revolutionären Uiguren“ nannte.[1][49] Die Bezeichnung der Islamischen Republik Ostturkestan von 1933 bis 1934 als „Republik Uiguristan“ spiegelte bereits die zunehmende Verwendung des Ethnonyms „Uiguren“ wider, mit dem inzwischen aus dem Tarim-Becken stammende, sesshafte Türken identifiziert wurden[5][50] und die Regierung Sheng Shicais etablierte das Ethnonym „Uiguren“ von offiziell chinesischer Seite.[50] Da ethnische Kategorien wie „Uiguren“ oftmals real existierende kulturelle, sprachliche und teilweise physische Unterschiede zwischen den Bevölkerungen Xinjiangs abbildeten, fanden sie in den späten 1930er und 1940er Jahren allgemeine Anerkennung.[49]

Die Vorfahren der Uiguren wurzeln im Zentralasien des ersten Jahrtausends v. Chr. und sind auf alte Gruppen turksprachiger Stämme zurückzuführen. In chinesischen Quellen werden die Ahnenstämme der Uiguren „Di“, „Chidi“, „Xiongnu“, „Dingling“ und „Gaoche“ benannt, die entlang der alten Seidenstraße nördlich der Tangri-Tagh-Berge und entlang der Flüsse Selenga und Orchon lebten. Dieses Gebiet wurde später als das Uigurische Khaganat bekannt. Die sozialen und kulturellen Aktivitäten der Uiguren finden sich in historischen und archäologischen Materialien bronze- und eisenzeitlicher Epochen bis zur Neuzeit wieder.[48][51]

Einige Ethnologen sehen in den heutigen Uiguren eine Vermischung turkomongolischer Volksgruppen mit indogermanischen Tocharern und iranischen Sogdern.[52][53] Eine altaische Substrat-Verwandtschaft sowohl uigurischer als auch alttürkischer Stämme mit den Tocharern bleibt jedoch bisher aus sprachwissenschaftlicher Perspektive aufgrund fehlender zeitlicher und komparativer Kohärenzen unbewiesen.[54]

Verbreitung und Demographie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Verbreitung der größten uigurischen Bevölkerungen (in zunehmend dunklem Farbton gestaffelt nach Staaten mit über 10.000, über 50.000, über 200.000 und über 10 Millionen uigurischen Einwohnern)

Von der weltweit zusammengerechneten Bevölkerung der Uiguren von 15 Millionen lebten im Jahr 2010 Schätzungen zufolge etwa 500.000 (also gut 3 Prozent) außerhalb Chinas.[2]

Nach Aufständen der uigurischen Gemeinden in den 1990er Jahren flohen Uiguren in Länder wie Kasachstan, Kirgisistan, Schweden, Deutschland, Australien, Kanada und die USA.[56]

Die uigurische Diaspora macht in mehreren Ländern der Welt einen ansehnlichen Bevölkerungsanteil aus.[2] Die größten diasporischen uigurischen Gemeinden befinden sich (Stand: 2011 oder früher) in Zentralasien, gefolgt von der Türkei, Australien, den USA, Deutschland, Norwegen und Schweden.[56] Die meisten Uiguren außerhalb Chinas leben in Zentralasien, an erster Stelle in Kasachstan (2010 schätzungsweise rund 370.000), aber auch in Kirgisistan und Usbekistan (2010 schätzungsweise jeweils rund 50.000).[2] Außer in den neu unabhängig gewordenen zentralasiatischen Republiken existiert eine signifikante Bevölkerungsanzahl von Uiguren auch in der Türkei, in den USA, Kanada, Australien und europäischen Ländern wie Deutschland und Großbritannien.[2] Der Präsident des Weltkongresses der Uiguren und somit Vertreter von Auslanduiguren, Dolkun Isa, gab 2022 die Anzahl der in den turksprachigen zentralasiatischen Republiken lebenden Uiguren mit über einer Million Menschen an. Diese größte Gruppe der Auslandsuiguren kann dort seinen Angaben zufolge ihre angestammte Kultur ungehindert pflegen. Die Anzahl der in der Türkei lebenden Uiguren bezifferte Isa 2022 auf 50.000 Menschen, die Anzahl der in Europa und Nordamerika lebenden Uiguren auf jeweils 15.000.[57]

Die Uiguren halten sehr engen Kontakt mit den Verwandten auf der ganzen Welt, sowohl mit denen in der Diaspora als auch mit den in der Heimatregion im chinesischen Xinjiang verbliebenen. Besonders erfolgreich erhalten sie die transnationalen Netzwerke mit ihren Verwandten und Bekannten im zentralasiatischen Raum und in der Türkei aufrecht.[2]

Außerhalb von China lebende Uigurengruppen gaben höhere Werte für die Gesamtzahl der Uiguren an (25 Millionen).[58] Auch in etablierten westlichen Medien lassen sich Angaben finden, nach denen außerhalb Xinjiangs rund 10 Millionen und weltweit insgesamt 20 Millionen Uiguren leben sollen.[59]

Hauptsiedlungsgebiete im früheren Turkestan und Verbreitung in China[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Uiguren leben zum weitaus größten Teil im Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang im Nordwesten Chinas und zu einem kleineren Teil in den zentralasiatischen Republiken.[60][61] Außerhalb von Xinjiang leben rund eine Million (Stand: 2009 oder früher) Uiguren in den größten chinesischen Städten sowie in Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan.[61]

Die bedeutendsten uigurischen Städte sind Ürümqi, die Hauptstadt von Xinjiang, und Kaxgar, ein altes Handelszentrum an der historischen Seidenstraße.[60]

Gesamtchina[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Uigurische Ethnie in China nach Volkszählungen, 1953–2010[62]
Jahr Anzahl Uiguren
1953 03.610.462
1964 03.996.311
1982 05.963.491
1990 07.207.024
2000 08.399.393
2010 10.069.346

Anfang des 21. Jahrhunderts lebten in China rund 10 Millionen Uiguren.[60][63] Bis zum Jahr 2020 haben sechs landesweite Volkszählungen in der Volksrepublik China stattgefunden, in den Jahren 1953, 1964, 1982, 1990, 2000 und 2010.[64] Laut der Volkszählung von 2010 lebten zu diesem Zeitpunkt 10.069.346 Angehörige der ethnischen Minderheit der Uiguren in China, mit geographischer Hauptverbreitung in Xinjiang.[63][65] Sie machen 0,75 % der Gesamtbevölkerung Chinas aus (nach Volkszählung von 2010).[64][66]

Die Uiguren zählen heute zahlenmäßig zu einer der größten der 55 oder 56 offiziell anerkannten nationalen Minderheiten Chinas[61][62][67] und werden (nach der Volkszählung von 2010) nur von den Zhuang, Hui und Mandschu übertroffen.[62][67] Mit 77,62 % (Stand: 2010) lebt der bei weitem überwiegende Teil der uigurischen Bevölkerung in China in ländlichen Gebieten, im Vergleich zum Durchschnitt der Minderheiten von 68 % und zu einem Anteil bei Han-Chinesen von 48,13 %. In der Zeitspanne zwischen den letzten beiden Volkszählungen ist das Bevölkerungswachstum der Uiguren mit + 1,8 % höher gewesen als das anderer nationaler Minderheiten (0,6 %) oder als das der Han-Chinesen (0,7 %).[67]

Xinjiang[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Region Xinjiang verfügt über eine ethnisch sehr vielfältige Bevölkerungszusammensetzung. Die Uiguren stellen mit etwa 11,3 Millionen Menschen neben den rund 1,6 Millionen Kasachen und anderen Bevölkerungsgruppen die bei weitem größte Ethnie der überwiegend turksprachigen und mehrheitlich muslimischen ethnischen Gruppierungen, die über die Hälfte der 22 Millionen Menschen umfassenden Gesamtbevölkerung Xinjiangs ausmachen und deren Sprachen, Kultur und Lebensweise sie stark von den Han-Chinesen unterscheidet, die die Mehrheitsbevölkerung Gesamtchinas darstellen.[68]

Traditionell uigurisches Hauptsiedlungsgebiet

Xinjiangs Norden (Dsungarei, Turpansenke) und Süden (Tarimbecken)
Heutige chinesische Provinz Xinjiang mit Dsungarei (gelb) und Turpansenke (rot) im Norden und Tarimbecken (blau) im Süden[69]
Die physische Karte zeigt die geografische Trennung von Dsungarei und Tarimbecken mit der Taklamakan durch das Tian-Shan-Gebirge
Das uigurische Hauptsiedlungsgebiet im Süden Xinjiangs wird von vielen Uiguren Altishahr genannt[70][71]

Das heute von China kontrollierte Gebiet in Zentralasien, in dem die Uiguren und ihre Vorfahren die Mehrheit der Einwohner gestellt haben, ist bei vielen Uiguren als Altishahr (Altä Şähär[71]) bekannt (uigurisch für: „sechs Städte“).[70][A 4] Die die Bezeichnung Altishahr verwendenden Uiguren sind jedoch von der politischen Macht über die Kartographie ausgeschlossen, und die Bezeichnung Altishahr kommt im bekannten Kartenmaterial nicht vor. Unter der Herrschaft und im politischen System der Chinesen dient die Wissensvermittlung der Stützung des Status quo. In diesem Umfeld bestehen uigurische Bezeichnungen wie Altishahr nur in der Umgangssprache fort, während im offiziellen öffentlichen Diskurs nur die chinesische Bezeichnung „Xinjiang“ und seine uigurische Transliteration „Shinjang“ als Namen für die Region akzeptiert werden.[70] Der Name Altishahr wurde typischerweise für die Benennung der Oasensiedlungen südlich vom Tien-Shan-Gebirge verwendet, wodurch zumindest die diesen Siedlungen gemeinsamen Merkmale betont wurden, wenn nicht sogar ihre territoriale Einheit.[71]

Xinjiang[A 5] (uigurisch: Shärqiy Türkistan oder Sharki Turkistan, zu Deutsch „Ostturkistan“[A 6]) blieb auch nach der im 18. Jahrhundert durch China erfolgten Annexion hauptsächlich von turksprachigen Muslimen bevölkert, von denen die meisten zu den Uiguren (chinesisch: Hui Hui, „schwarze Hui“[58][A 7] ) gehörten.[72] Trotz einer langen Geschichte des Austauschs mit China erhielten sich diese Menschen vor allem durch kulturelle und religiöse Bande die Verbundenheit mit der zentralasiatischen Welt.[72] Die Uiguren bildeten seit langem die Mehrheitsbevölkerung in Xinjiang, wo sie ihren Lebensunterhalt als Kaufleute und Oasenbauern bestritten.[60][73][74] Bereits seit der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts hatten die Uiguren allmählich die Oasen des Tarimbeckens türkisiert, das das Zentrum einer sesshaften indo-europäischen Zivilisation gewesen war.[75] Als sie im Verlauf des 9. Jahrhunderts in Ostturkistan, vorwiegend im Turpangebiet, ansässig wurden, assimilierten sie sich an die in dieser Region herrschenden Verhältnisse und wurden allmählich endgültig sesshaft, zuerst und hauptsächlich in den Oasen.[76]

Traditionell teilten sich die verschiedenen turksprachigen Gemeinden die unterschiedlichen Bewirtschaftungsnischen in der Region: Während sesshafte Uiguren die Oasen im Süden des Tian-Shan-Gebirges – und damit die Oasen des Tarim-, Turpan- und Kumul-Beckens – bevölkerten, bildeten die Tian-Shan-Gebirgskette und die Steppen im Norden die Heimat der kasachischen und kirgisischen Nomaden.[72][77][A 8][A 9]

Nach der Eroberung Ostturkestans durch Qing-China im Jahr 1759 hatte die Qing-Regierung sechstausend uigurische Familien aus verschiedenen Städten der Region Kaxgar, die sich den Invasoren besonders hartnäckig widersetzt hatten, in den Ili-Bezirk (Dsungarei) umgesiedelt. Auf diese Weise war eine neue Ili- oder Gulja-Gruppe von Uiguren geschaffen worden. Im Jahr 1884 hatte China dann den Ili-Bezirk in die damals neue Militärverwaltungsregion Xinjiang eingegliedert, und im Laufe der Zeit war der Name „Xinjiang“ zur Bezeichnung für die gesamte Region Ostturkestan festgelegt geworden.[78]

Heutige Verbreitung der Uiguren[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
„Uigurischer“ Süden und „kasachischer“ Norden Xinjiangs
Bis heute leben Uiguren in den Oasen entlang der alten nördlichen und südlichen Seidenstraße (gelb) um das Tarimbecken herum[4][79]
Im Bezirk Ili in der Dsungarei leben heute drei Viertel der Kasachen Xinjiangs[80]

Auch in jüngerer Zeit leben die Uiguren Chinas in und nahe bei den vielen Oasen, die entlang der von Dunhuang nach Kaxgar abzweigenden Routen der alten nördlichen und südlichen Seidenstraße um das Tarim-Becken in Xinjiang herum verstreut sind,[4][79] insbesondere in den Städten Kaxgar (auch: Kashgar, Kaschgar, chin. Kashi), Yarkant (auch: Yarkand, chin. Shache), Hotan (auch: Khotan, chin. Hetian), Aksu (auch: Aqsu), Kuqa (auch: Kucha, Kutscha), Korla und weiter östlich in Turpan (auch: Turfan) und Kumul (auch: Qumul, chin. Hami) und in den umliegenden Dörfern.[79] In heutiger Zeit wird Kaxgar als kulturelles Zentrum der Uiguren betrachtet. Oftmals wird auch die gesamte Oase, in der sich die Stadt befindet, oder gar die gesamte Region des östlichen Tarim-Beckens als „Kaxgar“ angesprochen.[5]

Nördlich des Tarim-Beckens leben Uiguren in Oasen an den Nord- und Südhängen des Tian-Shan-Gebirges und zu beiden Seiten des Bogda-Shan-Gebirges, das Turpan vom Norden Xinjiangs trennt.[4] Nördlich des Tian-Shan-Gebirges (auch: Tangri Tagh) leben Uiguren in Ürümqi (auch: Urumtschi, chin. Wūlǔmùqí) und Gulja (auch: Kuldscha, Ghulja, chin. Yining) und in der umliegenden landwirtschaftlichen Umgebung.[79]

Südlich der Taklamakan-Wüste besiedeln Uiguren die Nordhänge des Kunlun-Gebirges. Eine ziemlich große Gruppe hat ihren Siedlungsschwerpunkt in Dörfern westlich der Wüsten- und Sumpflandschaft des Lop Nur.[4] Die das Tarimbecken und die Wüste Taklamakan umgebenden Oasenstädte sind bis heute (Stand: 2008) vorwiegend uigurisch geprägt.[81]

Einige Uiguren sind in die im Norden Xinjiangs Gebiete gelegenen Gebiete um das Dsungarische Becken gezogen und leben in Städten in den Regionen Tarbagatai und Altai.[79]

Im Gegensatz zum Tarimbecken und der Taklamakan-Wüste ist der Norden Xinjiangs auch heute noch kasachisch besiedelt, wobei 75 % der Kasachen (Stand: 2004 oder früher) im Kasachischen Autonomen Bezirk Ili leben.[80]

Sinisierung Xinjiangs[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Proportionale demographische Verschiebung des Bevölkerungsanteils der Han-Chinesen gegenüber dem der Uiguren in Xinjiang
1952 bis 2004 (Uiguren in dunkelblau, Han-Chinesen in rot)
1944 bis 2000 (nach Berechnungen von Anwar Rahman, 2005)[82]
Bild rechts: Für 1999 und 2000 wurden den Han-Chinesen die Arbeiter aus chinesischen Inlandprovinzen zugerechnet, die zur wirtschaftlichen Ausbeutung von Ressourcenfeldern in Xinjiang leben, aber unter die Gerichtsbarkeit der chinesischen Zentralbehörden fallen, also bei der Volkszählung in Xinjiang unberücksichtigt blieben. Im Jahr 1998 betrug ihre Anzahl 1126500 Menschen (bestätigt vom Xinjiang Statistical Year Book, 1999).[82]
Bevölkerungswachstum in Xinjiang und im Xinjiang Produktions- und Aufbau-Korps (XPCC)
Quelle: The National Bureau of Statistics[83]
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Der noch immer vorherrschenden uigurischen Prägung in der Region wirkt die kontinuierlich voranschreitende Sinisierung (uigurisch: chinlashturush) entgegen, die insbesondere aus dem Zuzug von Han-Chinesen (auch: Han; oder: ethnische Chinesen) resultiert, der von staatlicher Seite forciert wird. Infolge dieser Politik lösten die Han-Chinesen laut offiziellen Quellen die Uiguren als größte ethnische Gruppe Xinjiangs ab (Stand: 2008).[81] Waren im Jahr 1949 noch 75 % der Einwohner Xinjiangs Uiguren und lediglich 6 % ethnische Han-Chinesen (nach anderen Angaben: vor 1953 4,94 % Han-Chinesen[84][85]), so waren Anfang der 2010er Jahre von den 22 Millionen Einwohnern der Region bereits 45 % Han-Chinesen, während der Anteil der Uiguren auf 40 % gesunken war.[86][87][88]

Laut chinesischen Staatsmedien legte das regionale Statistikamt (Xinjiang statistics bureau) am 14. Juni 2021 neue Census-Daten der siebten Volkszählung vor, nach denen von den mit Stand von Oktober 2020 nunmehr insgesamt 25,85 Millionen ständigen Einwohnern Xinjiangs 42,24 % (10,92 Millionen) der ethnischen Gruppe der Han-Chinesen angehörten, während 44,96 % (11,62 Millionen) auf die Uiguren als größte ethnische Gruppe der Region fielen, deren Anzahl damit gegenüber der sechsten Volkszählung im Jahr 2010 um 16,2 % (1,62 Millionen) gestiegen war.[89][90][91][92] Auch laut einem im September 2021 vom Informationsbüro des chinesischen Staatsrats veröffentlichten Whitebook, das speziell die Bevölkerung Xinjiangs behandelt, zeigten vorläufige Daten der im Jahr 2020 durchgeführten, siebten landesweiten Volkszählung Chinas, dass die Bevölkerung in den zehn Jahren seit der sechsten Volkszählung um 4,04 Millionen,[93][94] von denen 14,93 Millionen zu ethnischen Minoritäten zählten.[94] Von 2000 bis 2020 hat sich somit das Bevölkerungswachstum in Xinjiang verlangsamt, lag aber dem Whitebook zufolge weiterhin um 1,15 Prozentpunkte über dem nationalen Durchschnitt der durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate (Compound annual growth rate, CAGR).[93] In den Präfekturen Kaxgar, Hotan, Aksu und Kizilsu lebten nach den vorläufigen Daten 74,01 Prozent der uigurischen Gesamtbevölkerung Xinjiangs, die in diesen vier Präfekturen Südxinjiangs 83,74 Prozent der Gesamtbevölkerung stellten.[93][94] In Kaxgar und Hotan hatte die uigurische Bevölkerung den Daten zufolge die Anzahl von 2 Millionen überschritten und sich in Aksu dieser Marke angenähert.[93]

Xinjiang Produktions- und Aufbau-Korps (XPCC)
Verwaltungskarte Xinjiangs mit Kolonien (gelb) des XPCC
12. Kompanie, 150. Regiment, 8. Division des XPCC in Manas im Autonomen Bezirk Changji der Hui-Nationalität in Xinjiang
Der XPCC wurde seit 2020 von den USA und seit März 2021 auch von der EU wegen Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang sanktioniert.[95][96][97][98]

Nach Gründung der Uigurischen Autonomen Region Xinjiang kam es seit den 1950er Jahren zu einer sehr umfangreichen Immigration von Han-Chinesen nach Xinjiang.[60][62] Die kommunistische Regierung entsandte ab 1953 die Massenwellen von Han-Siedlern nach Xinjiang, um die Region zu sinisieren und unter Kontrolle zu behalten.[84][85] Ein wichtiges Instrument für diese Migration war das Produktions- und Aufbaukorps (shengchan jianshe bingtuan 生产建设兵团; abgekürzt: XPCC oder Bingtuan), das 1954 aus demobilisierten Han-Truppen gegründet wurde.[62][99] Dieses militärisch organisierte und auf Landwirtschaft ausgerichtete, korporale Instrument wurde für ökonomische, administrative und sicherheitspolitische Aufgaben eingerichtet, und sollte alle Arten wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung unterstützen, die Landesverteidigung in dem sensiblen Grenzgebiet stärken[62][99][100] und die Kontrolle über die Uiguren sicherstellen.[100] Seine vorwiegend (im Jahr 2014: 86,1 %) han-chinesischen Mitglieder genießen Sonderkonditionen und sind besser gestellt als der überwiegende Rest der Bevölkerung Xinjiangs.[62][99][100] Vor 1953 hatten die Han-Chinesen in Xinjiang nur einen Anteil von 4,94 % an der Bevölkerung, während die Uiguren 75,42 % der Bevölkerung ausmachten.[84][85] Im Jahr 1949 hatte der Anteil der Uiguren in Xinjiang 75 % betragen.[72][101] Der Anteil an Han-Chinesen im Jahr 1949 in Xinjiang wird mit 5 % angegeben.[5] 1953 gab es 4,54 Millionen Angehörige nationaler Minderheiten in Xinjiang. Laut der Volkszählung aus diesem Jahr zählte man davon 3,64 Millionen zu den Uiguren.[102] Der Anteil der Han-Chinesen in Xinjiang betrug im Jahr 1953 weit unter 10 %.[103] Im Jahr 1964 war der Anteil der Han-Chinesen in Xinjiang bereits auf über 30 % gestiegen.[103] Der Anteil der Uiguren in Xinjiang betrug 1964 noch 54 %.[72][101] Die Einwanderung der Han-Chinesen nach Xinjiang ab den 1950er Jahren hielt bis in die 1970er Jahre an und erreichte im Jahr 1978 einen Höhepunkt.[62] Bei der Volkszählung von 1982 war der Bevölkerungsanteil der Han-Chinesen dann auf 41 % gestiegen, während der Anteil der Uiguren auf 45,48 % gefallen war. Dies führte indirekt zu einer Entislamisierung in Xinjiang.[84][85] Seit 1982 schwankt der Anteil der Han-Chinesen etwas nach oben und unten.[62] Besonders ausgeprägt war der Zustrom der Han-Chinesen nach Xinjiang nach 1990.[60] Im späten 20. Jahrhundert[60] und im Jahr 2000 betrug der Anteil der Han-Chinesen in Xinjiang mit rund 7,5 Millionen Han-Einwohnern etwa 40 %.[103] Die Han-chinesischen Einwanderer kamen besonders aus den östlicher gelegenen Provinzen Sichuan, Henan und Gansu, in geringerem Maße auch aus Shaanxi und Anhui.[103] Im Jahr 2004 machten die Uiguren mit 19,6 Millionen Einwohnern 45,7 % der Bevölkerung in Xinjiang aus.[72][101] Als Ergebnis der aggressiven Siedlerpolitik der chinesischen Regierung seit 1949 lag der Anteil der Han-Chinesen in Xinjiang somit im Jahr 2010 bei rund 40 %.[5][104] In dem Jahrzehnt zwischen 2010 und 2020 war das die Wirtschaft Xinjiangs dominierende XPCC ein wichtiger Motor des Bevölkerungswachstums der Region.[83]

Außerhalb von China lebende Uigurengruppen behaupten, dass sich fast alle Han-Chinesen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Xinjiang niedergelassen haben, was den Prozentsatz von ursprünglich 4 % auf den heutigen Wert erhöht habe.[58]

Wirtschaftliches und ethnisches Nord-Süd-Gefälle[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf der wichtigsten subregionalen Verwaltungseinheiten von Xinjiang im Jahr 2000[108][109]
Verwaltungseinheit Anteil Uiguren
an Bevölkerung
Anteil Han-Chinesen
an Bevölkerung
BIP pro Kopf
in CNY
Karamay (Stadt) 13,6 % 77,9 % 43.926
Ürümqi (Stadt) 12,8 % 73,2 % 16.493
Turpan (Regierungsbezirk) 69,6 % 23,5 % 12.831
Shihezi (Stadt) 01,2 % 74,8 % 09.738
Changji (Autonomer Bezirk) 04 %,0 74,8 % 08.399
Kumul (Regierungsbezirk) 18,4 % 68,7 % 07.351
Yining (Gulja) (Autonomer Bezirk) 15,9 % 44,9 % 05.344
Aksu (Regierungsbezirk) 74,9 % 25 %,0 04.939
Kaxgar (Regierungsbezirk) 89,2 % 09,1 % 02.411
Hotan (Regierungsbezirk) 96,7 % 03 %,0 01.843
Durchschnitt / Xinjiang 46 %,0 39,2 % 07.913
Durchschnitt / China 07.543
Landwirtschaft (Trockenhäuser und Rebstöcke) und Erdöl-Förderung (zwischen Liuyuan und Turpan)
Erdölindustrie in den Turpan-Hami-Ölfeldern (auch: „Tuha-Ölfelder“, chin. 吐哈油田) in der Turpan-Senke
Tarim Desert Highway mit Verkehrsschild zu den 12 Kilometer entfernten Tarim-Ölfeldern (chin. 塔里木油田) und nach Niya

Während die südlichen Landesteile Xinjiangs noch vornehmlich agrarisch geprägt sind, haben sich im Norden in den letzten Jahrzehnten auch einige industrielle Zentren und überwiegend chinesisch dominierte Städte entwickelt.[81] Die Region ist reich an Bodenschätzen wie Erdöl, Erdgas und Kohle, deren Ausbeutung zum Wirtschaftswachstum beitragen.[88][110] Der Anteil Xinjiangs an den kontinentalen Ölreserven liegt bei 30 %, derjenige an den Gasreserven 34 %.[100] Xinjiang gilt zudem als Tor zu zentralasiatischen Energieressourcen und kann China über Pipeline-Verträge mit den ölreichen Nachbarstaaten in Zentralasien und Russland verbinden, um den Energiebedarf der boomenden chinesischen Wirtschaft zu decken.[110] Neben seiner Bedeutung durch die Energieressourcen nimmt Xinjiang auch eine strategische Kernposition in der geo-ökonomischen Initiative der „Neuen-Seidenstraße“ Chinas ein.[100][111][112] Im Zeitraum 1978–2000 überstieg Xinjiangs Wachstumsrate den chinesischen Durchschnitt,[108] und die Wirtschaft der Region verfügt im heutigen landesweiten Vergleich Chinas über ein recht gutes Niveau.[113] Die einst unindustrialisierte und zu den ärmsten Regionen in China gezählte Region gehört heute unter den „fernwestlichen Provinzen“ Chinas zu denjenigen mit dem höchsten Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt (BIP). Um die Jahrtausendwende belegte Xhinjiang unter den 31 chinesischen Verwaltungseinheiten auf substaatlicher Ebene in Bezug auf das Pro-Kopf-BIP den 12. Platz.[108]

Diese positiven makroökonomischen Daten verbergen jedoch tiefgreifende, an ethnische Zugehörigkeit gekoppelte soziale Ungleichheiten,[86][108] die die Verbitterung unter Uiguren aufrechterhalten.[108] Zwar profitieren die Uiguren mit der gesamten Region in gewisser Weise von der dank massiver Investitionen des chinesischen Staates gewährleisteten wirtschaftlichen Dynamik und den damit verbundenen Verbesserungen des Lebensumfelds.[86][108] Doch kamen die hohen Investitionen, die vorrangig für die Kolonisierungsgebiete bestimmt waren, vor allem den han-chinesischen Siedlern zugute und schlossen tendenziell die nationalen Minderheiten von Xinjiang von der Teilhabe an dem durch die Entwicklung der Region geschaffenen Wohlstand aus.[88][99][100][108][114] Die Art und Weise der Investitionen für die Entwicklung des Westens durch die chinesische Zentralregierung führte eher zu einer Zunahme der ökonomischen Marginalisierung der Minderheiten. In Xinjiang spielte dabei das Produktions- und Aufbaukorps eine besonders wichtige Rolle, indem diese Han-chinesisch dominierte Organisation zur Marginalisierung der Uiguren beitrug.[99] Faktisch blieb das pro-Kopf-BIP der han-chinesischen Siedlungen weitaus höher als in den noch weiterhin mehrheitlich uigurisch bewohnten Gebieten.[108][114] Die meisten Uiguren sind, gemessen an urbanen südchinesischen Standards, verhältnismäßig arm.[113] Viele Uiguren, die für einen von Han-Chinesen dominierten Arbeitsmarkt schlecht ausgebildet sind oder trotz beruflicher Qualifikation diskriminiert werden, können von dem starken Wirtschaftswachstum nicht profitieren.[86][87][99][100] Das schwache Abschneiden der Regierungsbezirke Aksu, Kaxgar, Kizilsu und Hotan, in denen drei Viertel der uigurischen Bevölkerung von Xinjiang konzentriert sind, weist darauf hin, dass ein erheblicher Teil dieser Bevölkerung Einkommen im Bereich der chinesischen und der von internationalen Organisationen festgelegten Armutsgrenze hat.[114] Das Fortbestehen ökonomischer Ungleichheiten entlang der ethnischen Linien in Xinjiang in Verbindung mit der strengen Kontrolle der chinesischen Führung über politische Institutionen führte in der Tendenz zu einem Umfeld, in dem die Uiguren Xinjiangs die von Han-Chinesen dominierte Regierung als Kolonialregime betrachteten.[115]

Der südwestliche Teil Xinjiangs, der vor allem die Regionen um das Tarimbecken und die nördlich ans Tien-Shan-Gebirge (uigurisch: Tängri Tagh) angrenzende Ili-Region umfasst, ist weiterhin vorwiegend von turksprachigen Ethnien besiedelt und gehört auch aus historischer Sicht zu „Ostturkestan“. Die Bevölkerung dieser Region kann sowohl wegen ihrer jahrhundertelang währenden historischen Verbundenheit mit den kulturellen und politischen Zentren der muslimischen Welt, als auch wegen ihrer selbstempfundenen Identität in erster Linie als Teil Zentralasiens und der turksprachigen Welt verstanden werden. Insbesondere betonen Uiguren häufig die sprachliche und kulturelle Nähe zu den Usbeken.[81]

Zentralasiatische Republiken[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ethnische Gruppen in Zentralasien

Heute existieren uigurische Gemeinschaften in fast allen neuen unabhängigen zentralasiatischen Republiken, wobei die größere Anzahl von Uiguren in Kasachstan lebt und die kleinste Gruppe in Tadschikistan.[117] Insgesamt lebten zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Usbekistan, Kasachstan und Kirgisistan, die inzwischen unabhängig sind, aber ehemals dem russischen Reich und später der Sowjetunion angehört hatten, insgesamt mindestens 300.000 Uiguren.[60] Einige Jahre vor der Auflösung der Sowjetunion im späten 20. Jahrhundert war für deren Gebiet (Usbekische Sozialistische Sowjetrepublik und Kirgisische Sozialistische Sowjetrepublik) die Zahl von 227.000 Uiguren angegeben worden, von denen allein in Taschkent 20.000 lebten.[4]

Das Semiretschje-Tal (im heutigen Kasachstan) und das Ferghanatal (in Usbekistan und Kirgisistan) sind die zwei Hauptregionen in Zentralasien, die bis in die jüngste Zeit dicht von Uiguren besiedelt waren.[117] Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die uigurische Bevölkerung in den ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens auf rund 200.000 geschätzt und konzentrierte sich auf die diejenigen Gebiete Kasachstans und des Ferghanatals, die der chinesischen Grenze am nächsten lagen.[118] Die beiden Hauptgruppen der Uiguren Zentralasiens unterschieden sich in der Herkunft, da es sich bei den Uiguren im Semirechye-Tal um nördliche Uiguren (Taranchi) aus der Region Kulja (Gulja) handelte, während die Uiguren des Ferghana-Tals aus dem im südlichen Ostturkestan liegenden Kaschgarien eingewandert waren. Diese beiden Gemeinschaften stammten nicht nur aus verschiedenen Regionen des uigurischen Heimatlandes, sondern unterschieden sich auch in der Geschichte, die zu ihrer Gründung geführt hatte.[117]

Während sich die meisten uigurischen Gemeinden Zentralasiens aufgrund der geographischen Nähe zu Xinjiang (Ostturkestan) und aufgrund von Migrationsbewegungen gebildet hatten, die durch interne Ereignisse und auch durch internationale Beziehungen verursacht worden waren, bilden die im Grenzgebiet des Ili-Tals lebenden Uiguren eine Ausnahme, indem sie im 19. Jahrhundert vom russischen Reich annektiert wurden und so dem heutigen Kasachstan zufielen.[117] Größtenteils waren die Uiguren erst nach 1880 – als Flüchtlinge nach verschiedenen Unruhen – in der Sowjetunion angekommen und später wieder nach 1950.[4]

Zur früheren uigurischen Diaspora war es im 19. Jahrhundert durch politische Umwälzungen in Xinjiang gekommen, die zur Auswanderung von Tausenden Ostturkestanis in russisches Territorium geführt hatten. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts führte die von Russland geförderte industrielle Entwicklung in Dschetissu (Semirechye) und Ferghana auch zu einem Zustrom von Zehntausenden Saison- oder Wanderarbeitern aus Süd-Xinjiang, die nun auf den Baumwollfeldern, im Melonenanbau sowie im Öl- und Kohlebergbau im russisch kontrollierten Turkestan arbeiteten. Viele sogenannte „sowjetischen“ Uiguren der späteren Auswanderungswelle waren dann Flüchtlinge, die in den 1950er und 1960er Jahren aus China flohen.[118]

Zur Zeit der Russische Revolution im frühen 20. Jahrhundert hatte diese Emigrantengemeinschaft noch rund 100.000 Menschen gezählt. Zwar war ihre Anzahl im Vergleich zu den Uiguren in Xinjiang immer gering und sie blieben in der Geschichte der Region auch bis in die Gegenwart eine unauffällige und wenig bekannte Randgemeinschaft. Doch spielten sie für die Verbindung zwischen Xinjiang und der islamischen und sowjetischen Welt eine sehr wichtige Rolle in der Geschichte.[119] Während die Interaktionen zwischen Turksprachen-Sprechern auf beiden Seiten der Grenze zwischen chinesisch und russisch kontrolliertem Territorium anhielten, kam es mit der russischen Revolution zu dramatischen Veränderungen in der zentralasiatischen Gesellschaft, die im chinesisch kontrollierten Ostturkestan beziehungsweise Xinjiang ausblieben. Die Erfahrung dieser Umwälzungen im Zuge der Revolution von 1917 in der kleinen ostturkestanischen Diaspora auf russisch-kontrolliertem Gebiet erlangte daher große Bedeutung auch für die politische Geschichte der weitaus größeren uigurischen Gemeinschaft auf chinesisch-kontrolliertem Gebiet. Die sowjetische Ethnopolitik förderte innerhalb der breiteren türkischsprachigen Gemeinschaft die Wiederbelebung des Ethnonyms „Uiguren“ und wurde eine notwendige Voraussetzung für das Wiederauftauchen der „uigurischen“ Idee.[118]

Kasachstan (mit Semiretschje)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Hauptmoschee der Taranchi (Uiguren) in der Zitadelle von Kulja (Gulja) in chinesischer Bauweise (Foto: 1882)[120]
Russisches Semiretschje-Gebiet (um 1900)
Portrait eines Taranchi (um 1882)[121]
Nachdem während der Bürgerkriege des Bezirks Gulja im Jahr 1867 einige Hundert Taranchis zu ihrem Schutz die Grenze zum Russischen Kaiserreich überquert hatten, erhielten sie von den Behörden Land, landwirtschaftliches Gerät und Geld für die Kolonisierung im Semiretschje-Gebiet, worauf sie sich zu einer blühenden Kolonie entwickelten.[121] Von 1881 bis 1884 fand die Umsiedlung vieler Gulja-Uiguren in den russischen Teil des Ili-Tals statt, wo sie in der Folge als Semirechye-Uiguren eine der drei wichtigsten Ethnien bildeten.[117]
Uiguren als eine der Ethnien Kasachstans
Die linke Briefmarke (Kasachstan, 2007) aus der Reihe „Völker Kasachstans“ („Қазақстан Халықтары“) zeigt Uiguren („Ұйғырлар“) in traditionellen Kostümen, die rechte Tataren („Татарлар“)
Anteil der Ethnien an den Altersgruppen der kasachischen Bevölkerung. Uiguren (hellblau) sind nach Kasachen (dunkelblau), Russen (rot), Usbeken (grün) und Ukrainern (violett) aufgeführt; sonstige Gruppen in Orange (Stand: 2013)

In Kasachstan identifizierten sich bei der Volkszählung im Jahr 1999 210.300 Menschen (1,4 Prozent der Gesamtbevölkerung des Staates) als ethnische Uiguren.[117][122][123] Die Uiguren bildeten damit nach den Kasachen, Russen, Ukrainern, Usbeken, Deutschen und Tataren die siebtgrößte ethnische Gruppe Kasachstans. Sie leben verdichtet im südöstlichen Teil Kasachstans, vorwiegend im Oblast Almaty (in den Distrikten Uyghur, Chilik, Enbekshikazakh und Panfilov) sowie in und um die Stadt Almaty selbst. Es existiert eine Infrastruktur uigurischer Kulturinstitutionen und die kasachische Regierung unterstützt den sekundären Bildungsbereich in uigurischer Sprache und uigurische Kulturinstitutionen.[117]

Im späten 19. Jahrhundert zogen Uiguren erstmals in bedeutender Anzahl westwärts über die Grenze nach Kasachstan. Sowjetischen Berichten zufolge sollen sie nach einem Aufstand vor den Repressalien der kaiserlich-chinesischen Qing-Armeen geflohen sein und somit Schutz bei den Russen gefunden haben. Chinesischen Berichten zufolge sollen sie dagegen von der kaiserlich-russischen Armee gewaltsam dazu gebracht worden sein, weil sie die kasachische Steppe in Ackerland umwandeln sollten:[124]

Nach der Eroberung Ossturkestans durch Qing-China waren Tausende uigurische Familien aus der Kaxgar-Region in die Ili-Region umgesiedelt worden („Gulja-Uiguren“).[78] Die kaiserlich-russischen Streitkräfte nutzten dann jedoch die örtlichen Unruhen, drangen 1871 in das nördliche Ili-Tal von Xinjiang ein und richteten unter einem zentralasiatischen muslimischen Herrscher ein Marionettenregime ein.[124] Damit hatte Russland das Ili-Tal 1871 im Konflikt mit den rivalisierenden Mächten Großbritannien und Qing-China um Einfluss und territorialen Besitz in Zentralasien faktisch besetzt.[78] Die russische Besetzung des (uigurischen) Sultanats Ili Taranchi 1871 und die Umsiedlung der Sultan-Familie aus der Sultanatshauptstadt Kulja in die russische Zitadelle Werny (heutige Stadt Almaty in Kasachstan) bildeten den Ausgangspunkt für das Anwachsen der Gemeinschaft der Semirechye-Uiguren. Doch die erste große regionale Bevölkerungsbewegung über die Grenze zwischen dem Qing- und dem russischen Reich fand erst zwischen 1881 und 1884 statt, als eine große Anzahl Menschen übersiedelte, um zu verhindern, dass die kaiserlichen Armeen des Qing-Reiches dessen Teil des Ili-Tals wieder einnahmen.[117] 1881 mussten die Russen die Ili-Region zwar wieder an China abtreten.[78] Doch nach der Rückeroberung des Ili-Tals durch den chinesischen General Zuo Zongtang für die Qing schlossen Russen und Qing miteinander den Vertrag von Sankt Petersburg, der auch beinhaltete, dass die Qing einen Teil des westlichen Ili-Tals an Russland abtreten, um chinesische Muslime und uigurische Flüchtlinge umzusiedeln.[117][124] Die Russen konnten einen kleinen Grenzstreifen behalten. Dieser umfasste einige Dörfer (Kaljat, Ketmen, Klein- und Groß-Achinoho, Tiermen, Dardamty, Shunkar, Aktam, Dobun und andere) im Gebiet des heutigen Scharkent (Jarkent, Scharkent, Yarkend) und der heutigen uigurischen Gebiete Kasachstans.[78] Die Rückkehr des Kulja-Gebiets in den Machtbereich der Qing ging somit mit der Umsiedlung einer beträchtlichen Anzahl uigurischer Familien einher,[78] die im Rahmen der vertraglich ermöglichten Umsiedlung uigurischer Bauern zwischen 1881 und 1884 in großer Zahl nach Kasachstan umsiedelten,[117][124] organisiert von der russischen Regierung.[117] Denn nachdem der Vertrag von Sankt Petersburg (1881) zwischen Russland und China 132.000 Einwohnern des Ili-Tals die freie Wahl ihrer Staatsbürgerschaft ermöglichte, befürchteten die meisten „Taranchi“ (Uiguren) Repressalien durch die Qing-Regierung und entschieden sich gegen eine Integrierung in das Qing-Reich.[78][117] Stattdessen entschieden sich nach offiziellen Angaben von 1883 75.000 von ihnen für die russische Staatsbürgerschaft und Umsiedlung in das Semirechye-Gebiet im heutigen Kasachstan.[78] Sie siedelten am rechten Ili-Ufer zwischen Horgos und Borohotszir sowie in Scharkent, Akkent sowie am linken Ili-Ufer an verschiedenen Orten, vom Dorf Dubuna bis zum Talgar, also an den Ufern der Flüsse Aksu, Bayan-Kazak, Saryfbulak, Chilik, Koram, Daban, Karaturuk, Lep und Talgar. Die Einwanderung hielt offenbar bis in das Jahr 1884 an und umfasste einigen Forschern zufolge schließlich 80.000 Uiguren.[78] Nach anderen Angaben waren bis 1884 über 45.000 Uiguren aus dem Gebiet von Kulja in den russischen Teil des Ili-Tals gezogen.[117] Sie gründeten im russischen Teil des Ili-Tals (Semirechye) die Stadt Zharkent und etwa 80 bis 90 kleinere Siedlungen (Qishlaq).[78][117] In Yarkend, Aksu, Charyn, Koram und Karassu wurden sechs Distrikte (Wolost) für die uigurischen Migranten eingerichtet, sowie vier Siedlungen in Werny. Seitdem bilden die Uiguren eine der drei wichtigsten ethnischen Gruppen im russischen Teil des Ili-Tals, neben den Kasachen und Russen.[117]

Da der Hauptbesiedlungsvorgang der Gulja-Uiguren in einem eng befristeten Ereignis stattfand, bildeten sie an den neuen Wohnorten geschlossene Siedlungen. Ihre neue Heimat in Semirechye ähnelte in ihren natürlichen und klimatischen Bedingungen ihrem Herkunftsgebiet im Ili-Distrikt. Die uigurischen Immigranten hielten daher an ihren gewohnten Wirtschaftsformen fest und konnten in den ersten Jahrzehnten im russischen Reich ihre Kultur unverändert beibehalten.[78]

Usbekistan und Kirgisistan (mit dem Ferghanatal)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Ferghanatal, unter anderem mit den Orten Osch und Andischan

In Usbekistan leben Uiguren im Ferghanatal und in der Region Taschkent. Im Ferghanatal verdichten sie sich im Distrikt Pakhtabad im Vilayet Andijon und in der Stadt Andijon (Andischan). Kurz vor Zusammenbruch der Sowjetunion ergab die Volkszählung von 1989 eine Gesamtzahl von 23.000 Uiguren in Usbekistan, darunter 14.009 im Oblast Andijon, 7964 im Oblast Taschkent und 1107 in der Hauptstadt Taschkent. Die überwiegende Mehrheit der Ferghana-Uiguren sind Nachkommen von Migranten aus dem südlichen Xinjiang (Kaschgarien).[117]

In Kirgisistan lebten im Jahr 1999 nach offiziellen Angaben 46.733 Uiguren (rund 1 Prozent der Gesamtbevölkerung des Staates). Die uigurischen Gemeinden befanden sich in zwei Regionen des Landes, wobei sich die 32.300 Uiguren zählenden nördlichen Gemeinden (in den Oblasten Tschüi, Talas, Naryn und Yssykköl sowie in der Hauptstadt Bischkek) in ihren kulturellen Traditionen von den 14.433 Uiguren zählenden südlichen Gemeinden (in den Gebieten Osch, Dschalal-Abad und Batken) unterscheiden.[117]

Innerhalb der nordkirgisischen Gruppe stammen die Uiguren der Region Yssykköl über Migration der 1950er und 1960er Jahren aus Kasachstan und China, während die in Bischkek und Umgebung (Dörfer Lebedinowka, Pokrovka, Malovodnoye und andere) lebenden Uiguren während der letzten Migrationswelle aus Kulja (Gulja) und Kaxgar gekommen sind. In der südkirgisischen Gruppe bilden die im Oblast Osch lebenden Uiguren gemeinsam mit den Uiguren der usbekischen Provinz Andijon eine spezielle Gruppe von Uiguren aus dem Ferghana-Tal.[117]

Heute sind die Ferghana-Uiguren mit der Möglichkeit konfrontiert, sich durch Assimilation als ethnische Gruppe aufzulösen. Sowohl in dem zu Usbekistan, als auch in dem zu Kirgisistan gehörenden Teil des Ferghanatals standen Uiguren unter dem starken kulturellen Einfluss der Usbeken. Es kam bereits zur Sowjetzeit zu einer starken Usbekisierung der Ferghana-Uiguren, die zum einen durch die engen kulturellen und sprachlichen Verbindungen zwischen Uiguren und Usbeken begünstigt wurde. Zum anderen wurden die Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen in Usbekistan sowohl während als auch nach der Sowjetzeit unter Druck der lokalen Regierung dazu gezwungen, ihre offizielle Staatsangehörigkeit in „Usbekisch“ abzuändern. Verstärkend wirkte für diesen Prozess der Assimilation der Uiguren in Usbekistan zudem der Mangel an Infrastruktur zur Entwicklung und Erhaltung der uigurischen Sprache. Zudem erklärte Präsident Islom Karimov mit Rücksicht auf Empfindlichkeiten die als strategischer Partner Usbekistans fungierende VR China, dass in Usbekistan keine uigurische Bevölkerung existiere.[117]

Die Bildung der uigurischen Gemeinde im Ferghanatal unterschied sich von der des Semiretschje-Gebiets. Ander als die innerhalb weniger Jahre vollzogene und eine beträchtliche Anzahl von Uiguren einschließende Umsiedlung nach Semirechye, lässt sich das Migrationsgeschehen von Uiguren in das Ferghanatal durch die Infiltration kleiner Gruppen von Uiguren charakterisieren, die aus Kaxgar, Aksu und Yarkant auswanderten.[117]

Zu den Beweggründen für die Emigration von Uiguren ins Ferghanatal zählten nicht nur politische (wie die Expansion Chinas und die Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen religiöser Gruppen), sondern auch ökonomische (wie Landmangel und Handelsbeziehungen). Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatten die Vorfahren der Ferghana-Uiguren entlang der Flüsse Kara-Darja und Naryn im östlichen Teil des Ferghana-Tals bereits eine Reihe von Siedlungen errichtet.[117] Ähnlich wie bei den Uiguren in Semirechye erfolgte die Errichtung von Siedlungen auch bei den Uiguren im Ferghanatal in Übereinstimmung mit ihren Verwandtschaftsbeziehungen.[117]

Turkmenistan und Tadschikistan[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In Turkmenistan lebt die kleinste und isolierteste Gruppe zentralasiatischer Uiguren. Die uigurische Gemeinde hat ihre Ursprünge in der im Jahr 1890 erfolgten Abwanderung einer relativ kleinen Gruppe von 272 uigurischen Familien (1.308 Menschen) von Semirechye in die Oase Murgab. Sie siedelten in der Region Mary im heutigen Turkmenistan im Ort Bairam-Ali. Nach inoffiziellen Angaben des uigurischen Kulturzentrums von Turkmenistan lebten zu Beginn der 1990er Jahre 1.400 Uiguren in Turkmenistan, davon 704 in Bairam-Ali (1,6 Prozent der Gesamtbevölkerung des Ortes). Einige Uiguren-Gruppen leben auch in Mary und im Dorf Turkmen-Kala. Der Assimilationsprozess von Uiguren durch die turkmenische Mehrheit entgegen wirkt einem Anstieg der Anzahl turkmenischer Uiguren entgegen, die praktisch alle Verbindungen zu uigurischen Gemeinschaften in anderen Teilen Zentralasiens verloren haben. Zwar wurden zu Beginn der Sowjetzeit in Bairam-Ali und Umgebung einige uigurische Schulen eröffnet, doch gilt heute das Verschwinden der uigurischen Sprache in Turkmenistan als absehbar.[117]

Im heutigen Tadschikistan lebt keine nennenswerte Anzahl von Uiguren, wenn auch in der Hauptstadt Duschanbe eine kleine uigurische Gemeinde mit uigurischem Kulturverein existiert.[117]

Diaspora außerhalb des früheren Turkestans und Chinas[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Bei den Uiguren, die sich im Ausland niedergelassen haben, handelt es sich um Emigranten aus Xinjiang. Die Auswanderung der Uiguren aus Xinjiang reicht in der Geschichte länger zurück und erfolgte in mehreren Wellen. Diese Wellen erfolgten in der Regel, wenn sich die Bedingungen für die Uiguren verschlechtert hatten oder – im umgekehrten Fall – wenn die Ausreise erleichtert wurde.[2]

Prominente Uiguren der frühen Diaspora
Sowohl İsa Yusuf Alptekin als auch Mehmet Emin Buğra gingen während ihrer Auswanderung nach Indien und später in die Türkei, wo sie eine separatistische uigurische Bewegung anführten[2]

Einige Uiguren emigrierten Mitte der 1930er Jahre, nachdem die Erste Ostturkestanische Republik nach kurzer Dauer aufgelöst wurde, und reisten hauptsächlich in die Türkei und nach Saudi-Arabien ein.[2]

Nach der Auferlegung der kommunistischen Herrschaft im Jahr 1949 – und dem Ende der Zweiten Republik Ost-Turkestan – führte massive Einwanderung von Han-Chinesen nach Xinjiang dazu, dass sezessionistische Bewegungen und antikommunistische, antirussische und antichinesische Revolten turksprachiger Rebellen in Xinjiang immer weniger Erfolgschancen hatten.[125] Einige hundert Uiguren, die Xinjiang Ende 1949 nach der kommunistischen Machtübernahme in China verließen, ließen sich zunächst im indischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir nieder und zogen dann in die Türkei, wo sie mit Unterstützung der türkischen Führung uigurische Diaspora-Organisationen gründeten.[2]

Vermutlich zogen einige uigurische Familien vom chinesischen Festland nach Taiwan, als die kommunistische Regierung im Jahr 1949 die Macht übernahm.[4] In den 1950er Jahren wurden Augenzeugenberichten zufolge Verfolgungen muslimischer Sezessionisten durch das neue chinesische Regime durchgeführt.[84][85] 1962 flüchteten mehr als 60.000 Einwohner der Region Ili in Xinjiang – darunter viele Uiguren – aus China in das zu dieser Zeit zur Sowjetunion gehörende Kasachstan. Sie wurden dabei von dem Elend getrieben, das im Zusammenhang mit dem Großen Sprung nach vorn stand.[2] 1966 wurden als Teil der chinaweiten Kampagne der Kulturrevolution zur Zerstörung der alten Traditionen alle Religionen in China verboten, ohne Xinjiang davon auszunehmen. Koranexemplare und islamische Bücher wurden verbrannt, Moscheen zerstört oder geschlossen und religiöse Führer von den Roten Garden verfolgt. Der Leidensdruck durch die Maßnahmen war bei den Muslimen sehr hoch. Infolgedessen wurden Tausende Muslime ins Exil in muslimische Länder getrieben, in Zentralasien, im Nahen Osten und auf dem indischen Subkontinent.[84][85] Nach dem Einleiten von Reformen und der Politik der offenen Tür durch Deng Xiaoping Ende der 1970er Jahre konnte eine höhere Anzahl von Uiguren als zuvor Xinjiang verlassen. Mehrere Tausend von ihnen ließen sich dann seit den 1980er Jahren in verschiedenen Teilen der Welt nieder, in manchen Fällen mit Hilfe des Hohen Flüchtlingskommissars der UN (UNHCR).[2]

Viele Uiguren verließen somit ihre Heimat infolge der kommunistischen Machtübernahme. Eine große Anzahl uigurischer Flüchtlinge ließ sich in Saudi-Arabien nieder. Weitere Gruppen leben in Taiwan, im indischen Teil Kaschmirs in Srinagar, in den USA und in Pakistan (Stand: 1989).[73]

Zu Beginn der 1990er Jahre kam es zur Auswanderung antikolonialer Kreise.[112] In dieser Zeit begannen Uiguren in europäische und amerikanische Industriestaaten zu immigrieren.[2] Die aktivsten säkularen nationalistischen Aktivisten wurden verhaftet oder flüchten in die Diaspora. Die islamisch-nationalistische Strömung war in der militanten uigurischen Szene der Diaspora eher marginal. Sie war im Wesentlichen säkular-nationalistisch geprägt.[111] Diese Auswanderungswelle dürfte militante Strömungen der uigurischen Diaspora gefördert oder erneuert haben, sowohl in Zentralasien, als auch in der Türkei und in der damals entstehenden westlichen Diaspora (hauptsächlich Deutschland, USA und Australien).[112]

Auch heute (Stand: 2019) handelt es sich bei der uigurischen Diaspora in Europa mit einigen Tausend Flüchtlingen um eine relativ kleine Gruppe.[126] Dazu kommen einige Tausend weitere Uiguren in der Türkei,[126] wo sie seit den 1960er Jahren eine sichere Zuflucht gefunden haben.[127] Einige reisten mit einem Studentenvisum nach Frankreich, Ungarn und in die nordischen Länder ein und blieben dann dort, während andere mit Menschenschmugglern nach Europa gelangten.[126]

Politische Organisation in der Diaspora

Rebiya Kadeer, ehemalige WUC-Präsidentin
Dolkun Isa, amtierender WUC-Präsident
Demonstrationen in der westlichen Diaspora am 10. Juli 2009 anlässlich der Unruhen in Ürümqi vom 5. bis 7. Juli
Das Foto in Berlin zeigt ein Plakat der GfbV gegen Unterdrückung oder Zerstörung von Kultur, Architektur, Sprache und Religion der Uiguren durch China

Zwar verliefen die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts in Bezug auf die uigurische Frage für den chinesischen Staat auf seinem Territorium ruhiger als die 1990er Jahre. Andererseits gelang es jedoch der uigurische Diaspora, ihre traditionelle Uneinigkeit zumindest soweit zu überwinden, dass 2004 in München der Weltkongress der Uiguren (WUC) gegründet würde, der ein Zentrum für antichinesische Aktivitäten bildete.[62] Die uigurische Diaspora unternahm im Westen große Anstrengungen, ihren Einfluss im 21. Jahrhundert zu verbreiten.[128] Im Ausland lebende Führer wie Rebiya Kadeer oder Dolkun Isa hatten sich allmählich an den politischen Standards des Westens ausgerichtet und ihre politischen Handlungen nach der gewaltfreien Lobbyarbeit der tibetischen Diaspora gestaltet, um die Unterstützung von ausländischen Positionen und Regierungen zu gewinnen. Diese Strategie hatte 2004 den WUC hervorgebracht.[111] Der WUC ist dabei nicht muslimisch, sondern weltlich ausgerichtet.[128] Die erfolgreiche Geschäftsfrau Kadeer, die 1997 von den chinesischen Behörden wegen angeblicher staatsfeindlicher Aktivitäten in China inhaftiert,[2][111] dann freigelassen und nach Washington geflüchtet war, wurde 2006 WUC-Präsidentin[62] und verkörperte lange Zeit den WUC.[111] In der Rebiya-Kadeer-Frage wurden Uiguren aus aller Welt geeint.[2]

Die Uiguren sind ein Beispiel dafür, dass der Wunsch ethnischer Minderheiten sehr deutlich politisiert und internationalisiert werden kann, die eigene kulturelle Identität oder ethnische Kultur gegen die Kräfte der Globalisierung oder mehrere andere ethnische Kulturen, die mächtig und einflussreich sein können, zu bewahren. Im heutigen China trifft dies besonders deutlich auf ethnische Minderheiten mit gut organisierten Diasporas zu. Unter ihnen ist zwar die tibetische Kultur der bei weitem bekannteste Fall, doch folgen ihnen die Uiguren, die ihr internationales Profil im 21. Jahrhundert verstärken konnten.[128]

Die chinesische Führung ließ sich in dem Konflikt nicht ernsthaft auf Verhandlungen mit den im Exil lebenden Vertretern der ethnischen Gruppe der Uiguren ein,[99] sondern griff stattdessen ihre Repräsentanten persönlich und diffamierend an.[99][128] Die chinesischen Behörden verglichen Rebiya Kadeer schnell in ihrer Bedeutung als politisch verantwortliche Figur mit dem tibetischen Dalai Lama, indem sie sie bezichtigten, den großen Aufstand in Xinjiangs Hauptstadt Ürümqi im Juli 2009 angestiftet zu haben. Ihre Anschuldigung, die Präsidenten des WUC sei eine Terroristin, wurde allerdings von westlichen Kommentatoren praktisch allgemein zurückgewiesen.[128]

Die im Ausland lebende Uiguren sind heute oft stolz auf ihr soziales, kulturelles und historisches Erbe. Sie sind dort nicht nur geschäftlich aktiv, sondern haben sich hohe Berufsqualifikationen in Bereichen wie Wissenschaft, Technologie, Medizin, Wirtschaft, Recht, Unternehmensführung und anderem erworben.[2]

Die Stärke und Präsenz der Uiguren in der jeweiligen Aufnahmegesellschaft ist auch an den ethnischen Verbänden oder Vereinen erkennbar, die die Uiguren in den Ländern ihrer Diaspora gebildet haben. Durch diese Organisationen halten sie ihre familiären und sozioökonomischen Netzwerke mit dem Heimatland und anderen Uiguren auf der ganzen Welt aufrecht.[2]

Die disporischen politischen Organisationen mit Sitz in der Türkei, in Deutschland und in den USA hatten zwar nur geringen unmittelbaren Einfluss auf die Uiguren in Xinjiang, kämpften aber darum, die Situation der Uiguren in China zu einem politischen Gegenstand weltweiten Interesses zu machen.[1]

Diaspora in der Türkei[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ostturkestan-Flaggen in der europäischen Diaspora
Gewürzhändler am Ägyptischen Basar im Istanbuler Stadtteil Eminönü (1. August 2009)
Demonstration in Bern gegen Menschenrechtsverletzungen der chinesischen Regierung (10. Dezember 2020)

In den 1950er Jahren erreichte eine erste Gruppe Uiguren aus Xinjiang über Pakistan die Türkei. 1968 folgte eine zweite Welle uigurischer Einwanderer in die Türkei über Afghanistan.[73][129]

Die Flüchtlinge aus der Landschaft Turkestan, die während der 1950er Jahre in die Türkei kamen, wurden in der Türkei für gewöhnlich als „Tataren“ (türkisch: Tatarlar) angesprochen. Diese Gruppe von Immigranten - zusammengesetzt aus Usbeken, Turkmenen, Kirgisen, Kasachen und Uiguren - bezeichneten sich selbst jedoch als „Turkestani“ (türkisch: Türkistanlılar). Gemein war diesen Gruppen neben ihrer Zugehörigkeit zum sunnitischen Islam hanefitischer Rechtsschule, dass sie verschiedene, aber bis zu einem gewissen Grad gegenseitig verständliche zentralasiatische Turksprachen sprechen und – meist in den 1950er Jahren – aus dem ehemals „Turkestan“ genannten Gebiet kamen, das später zwischen der Volksrepublik China (Region Xinjian), der Sowjetunion (die sozialistischen Sowjetrepubliken Kasachische SSR, Turkmenische SSR, Kirgisische SSR und Usbekische SSR) und Nord-Afghanistan aufgeteilt wurde.

[73]

In der Türkei gab es bis 1921, als die heutigen Uiguren (türkisch: Uygur oder im Plural Uygurlar), ihre Selbstbezeichnung als Uyğur annahmen, verschiedene nach ihren Wohnorten gewählte Selbstbezeichnungen wie Käşkarlık, Turpallık, Kommulluk oder andere.[129] In der engverbundenen Ansammlung von Wohnsiedlungen, Lederfabriken und kleinen Läden in Zeytinburnu, die vorwiegend von Migranten der 1940er Jahre aus dem heutigen Xinjiang besiedelt war, fand der Ethnologe Dru C. Gladney in ihrer Selbstbezeichnung noch Ethnonyme wie Kashgarlik, Turfanlik, Khotanlik oder Aksulik vor sowie weitere Geburtsort-Bezeichnungen, die auf die das Tarimbecken umgebenden Oasenstädte oder die Taklamakanwüste verwiesen.[130]

Andrews wies in seiner umfassenden Ethnographie der Türkei (1989) darauf hin, dass die Uiguren bei der Volkszählung in der Türkei nicht gesondert ausgewiesen wurden, da es sich bei ihnen (wie bei den Türken selbst) um Sprecher einer Turksprache handelte.[129] In der Türkei sprechen die Uiguren (Stand: 1989) Uigurisch oder Osttürkisch (türkisch: Türki, Uyğur Tili), das zur Gruppe der Östlichen Turksprachen innerhalb der Sprachfamilie der Turksprachen gehört und sich in zwei Hauptdialekte (Nord und Süd) sowie in vier weitere, recht „isolierte“ Dialekte aufteilen lässt. Sie hielten in der Türkei an ihrer Sprache für den Gebrauch untereinander fest.[129] Uiguren in der Türkei konnten ihre Identität teilweise besser bewahren als jene in Xinjiang. So lernten sie in der Türkei beispielsweise in den Schulen mehr über die Geschichte der Uiguren als in Xinjiang und organisierten zu vielen Anlässen im Jahr kulturelle Aktivitäten mit Inhalten zur uigurischen Zivilisation. Während Uiguren etwa in Istanbul in aller Regel ein oder mehrere uigurische Lieder singen konnten, darunter auch sehr alte, traf dies für die Uiguren in Xinjiang nicht zu.[131] Die sprachliche Nähe zwischen Uigurisch und Türkisch kann mit derjenigen zwischen Niederländisch und Deutsch verglichen werden.[132]

Svanberg (in der Ethnographie von Andrews veröffentlicht) gab für das Jahr 1980 eine Anzahl von 700 Uiguren in der Türkei an, die in Istanbul (rund 50 Familien in der Kasachen-Siedlung in Safraköy, weitere in Örnektepe), Izmir, Adana und Kayseri (mit der größten Gruppe von rund 100 Familien in Yenimahalle) lebten. Typisch für die Uiguren in Istanbul war es, dass sie ihren Lebensunterhalt durch Handel und Handwerk bestritten, während die Uiguren Kayseris dafür Mützen und insbesondere Gebetskappen (türkisch: takke) nähten.[73][129] Neben Zeytinburnu gilt heute (Stand: 2021) auch der Stadtteil Sefaköy (in Küçükçekmece) als Heimat der uigurischen Exilgemeinde von Istanbul.[132]

Heute wird darauf hingewiesen, dass die Uiguren in Gemeinsamkeit mit den Türken traditionell eine eher offene Variante des sunnitischen Islam praktizieren.[132] Andrews wies jedoch (1989) darauf hin, dass die Uiguren in der Türkei in ihrer Religionsangehörigkeit dem sunnitischen Islam in strikt hanefitischer Ausprägung folgten und sich allein durch die Striktheit ihrer Befolgung religiöser Bräuche, nach denen Frauen in Seklusion mit Männern lebten, wohl schon vom Rest der türkischen Gesellschaft abhoben.[73][129] Die „Turkestani“-Immigranten waren im Batı Türkistan Kültür Derneği und im von den Uiguren dominierten Doğu Türkistan Göçmenler Derneği organisiert, über die Folklorevorführungen und Teilnahmen an verschiedenen politischen Kundgebungen veranstaltet und Propaganda zum Thema Turkestan verbreitet wurde. Auch führten Uiguren und Kasachen ein recht aktives kulturelles Leben mit oft panturkistischer Richtung.[73] Neben den sprachlich und kulturell ohnehin augenscheinlichen Ähnlichkeiten zwischen Uiguren und Türken kann auch die Ideologie des Panturanismus (verstanden als ein von der Türkei bis nach Ostturkestan länderübergreifendes Türkentum) zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Verbindung der beiden Völker zusätzlich propagandistisch überhöht haben.[132] Der Politiker Isa Yusuf Alptekin, der eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der uigurischen Autonomiebestrebungen darstellt, war in den 1950er Jahren in die Türkei geflüchtet und wurde nach seinem Tod im Jahr 1995 neben den türkischen Staatsführern Turgut Özal und Adnan Menderes bestattet.[132] Wie Alptekin hatte auch Mehmet Emin Buğra nach seiner Auswanderung in die Türkei von dort eine separatistische uigurische Bewegung angeführt.[2]

Unmittelbar nach dem Aufstand in Ürümqi von Juli 2009 wurde in Kayseri ein großes Flüchtlingslager errichtet, das von einer uigurischen Hilfsorganisation betrieben wird. Manche Uiguren haben mittlerweile das Lager verlassen, während andere hinzugekommen sind. Heute (Stand: 2019 oder früher) leben über 2000 Uiguren im Kayseri-Lager. Die meisten Uiguren in Kayseri waren ursprünglich Fabrik- und Bauarbeiter, die in Lagern und Zelten für Wanderarbeiter in Ürümqi gelebt hatten.[113]

Anfang Juli 2015 nahm die Türkei rund 175 Uiguren auf, die von China nach Thailand geflüchtet waren. Zuvor kam es in Ankara und Istanbul zu teilweise gewalttätigen Protesten nationalistischer Türken gegen die chinesischen Behörden, die angeblich die uigurische Minorität daran hindern, das religiöse Fasten im Ramadan einzuhalten.[100]

Das in Istanbul ansässige East Turkestan National Center gab die Anzahl der in der Türkei lebenden Uiguren nach einer Nachrichtenagenturangabe von 2019 mit 35.000 an.[127] Anfang 2021 bezifferte die Deutsche Welle die Anzahl der Uiguren, die vorwiegend in den letzten vorangegangenen Jahren in die Türkei geflohen waren, auf 50.000.[133][134] Damit handelt es sich bei den Uiguren in der Türkei um die weltweit größte uigurische Diaspora.[132]

Diaspora in Deutschland[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Gemeinsame Demonstration der Gruppe „Hongkongers in Germany Concern Group“ (HKGCG) und des WUC[135] für die Rechte der Uiguren vor dem Brandenburger Tor in Berlin (19. Januar 2020)
Pro-uigurische Demonstrationen in München (21. August 2008)

Die exil-uigurische Diaspora in Deutschland nimmt eine besondere Stellung ein und ist mit 2000 Mitgliedern die größte Europas.[136] Sie ist in jüngster Zeit unter anderem durch den deutlichen Anstieg von Asylanträgen (2020: 193 Asylanträge) gewachsen.[136] Auch zuvor kamen viele Uiguren in Deutschland als Asylsuchende ins Land. Sie stammen oftmals aus kleineren Städten und ländlich geprägten Gebieten in Xinjiang. Viele lebten auch in jüngster Zeit (Stand: 2011 oder früher) noch immer in Asylunterkünften, während andere als Flüchtlinge in Deutschland anerkannt wurden und eine Vielzahl von Beschäftigungen ausüben, darunter in der Informationstechnologie, in der politischen Interessenvertretung, im Reinigungsgewerbe oder in der Gastronomie, auch als Besitzer von Restaurants.[56]

Eine besonders hohe Zahl an Uiguren in Deutschland lebt in und in der Nähe der Stadt München.[56] Im Jahr 2009 waren 500 der 600[137] im Jahr 2019 700 der 1.500[138][139][140] und im Jahr 2022 800 der 2000[136] in Deutschland lebenden Uiguren in München ansässig.[136][137][138][139][140] München gilt zugleich als größte uigurische Gemeinde in der gesamten europäischen Diaspora.[137][138][139][140] Bei den meisten Uiguren handelte es sich laut einem Vertreter des Weltkongresses der Uiguren (WUC) um politische Flüchtlinge.[137][138] Die Geschichte der Uiguren in München reicht in die Zeiten des Kalten Krieges in den 1970er Jahren zurück, als der US-amerikanische Sender Radio Liberty mit München als seinem Hauptquartier in Richtung Sowjetunion ausstrahlte. Er hatte auch ein uigurisches Programm, zu dem Dissidenten aus Xinjiang beitrugen, wodurch München seinen Ruf als politisches Zentrum der Exil-Uiguren erwarb.[138] Bei den Uiguren der 1970er Jahre in München handelte es sich um die ersten Uiguren, die in den Westen gingen.[140] München gilt jedoch nicht nur als „Exil-Hauptstadt der Uiguren in Deutschland“, sondern mit dem dort ansässigen WUC, der Dachorganisation für 32 uigurische Gruppen in 18 Ländern, auch als ein „Hauptquartier des uigurischen Widerstandes gegen China“.[56][138] Der WUC engagiert sich für die Unabhängigkeit „Ost-Turkestans“[136] und organisiert nicht nur Demonstrationen und kulturelle Feste, sondern unterstützt auch Uiguren auf der Flucht.[138] München ist als Sitz der Dachorganisation WUC auch Sitz kleinerer Gruppen wie dem Uigurischen Frauenverein München. Auch die Ostturkestanische Union in Europa agiert von München aus und organisiert regelmäßig Demonstrationen vor dem chinesischen Konsulat. WUC, Uigurischer Frauenverein München und Ostturkestanische Union in Europa wähnen sehen als Repräsentation der Uiguren in China an und treten oft zusammen auf Protest- und Kulturveranstaltungen in Aktion.[136]

Viele Uiguren in der Diaspora sind Mitglieder von politischen Organisationen der Diaspora wie dem WUC und verbinden oft im Rahmen dieser Organisationen ihr privates mit öffentlichem Engagement, nehmen an Demonstrationen gegen Menschenrechtsverletzungen in China teil, bringen ihren Kindern uigurische Sprache und kulturelle Traditionen bei oder organisierten Gemeinschaftsfeiern für Festtage, wie die Frühlingsfeier Nowruz,[56] die in München in den 2000er Jahren von der Ostturkistanischen Union in Europa e. V. veranstaltet worden sein soll.[141]

Die Organisation des WUC geht laut Medienangaben auf Dolkun Isa zurück, den Anführer prodemokratischer Proteste an der Universität Xinjiang.[138] Isa, heute Präsident des WUC,[59][138] war 1994 zunächst in die Türkei und dann 1996 nach Deutschland geflüchtet.[138] Die chinesische Regierung betrachtet ihn als Terroristen und lässt ihn von Interpol verfolgen.[138] Sie hatte eine „Red Notice“ gegen Isa erlassen, die erst 2018 gelöscht wurde.[59] Isas Angaben nach soll er in Italien beim Betreten des Senats aufgrund der „Red Notice“ verhaftet,[59][142] aber dank der deutschen Regierung nicht nach China abgeschoben worden sein.[59] Er gab weiter an, dass er ohne den Einsatz der deutschen Regierung gewaltsam nach China zurückgeschickt worden und „verschwunden oder getötet worden“ wäre.[59] 2022 wurde Isa von der Menschenrechtsorganisation Gesellschaft für bedrohte Völker mit deren Ehrenmitgliedschaft ausgezeichnet.[57]

Seit 2016, als noch 23 Uiguren Asylanträge in Deutschland stellten,[138] nimmt die Anzahl der Uiguren aus China zu, die in Deutschland Asyl beantragen.[143] Die Anzahl der in Deutschland Asyl beantragenden Uiguren stieg von 68 im Jahr 2018 auf 193 im Jahr 2019.[139] Unter den chinesischen Asylantragstellern war dabei der Anteil der Uiguren besonders stark gestiegen.[139] Auch waren dabei die Chancen auf Asylgenehmigung mit rund 96 % für Uiguren überdurchschnittlich hoch im Vergleich zur Gesamtzahl der Chinesen mit weniger als 19 %.[139][143] Wie die Anzahl der uigurischen Asylbewerber steigt auch deren Schutzquote bereits seit 2016 an.[140]

Diaspora in den USA[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Anwar Yusuf Turani (rechts), Gründer und aktueller Ministerpräsident der Exilregierung der Republik Ostturkistan,[2] mit US-Präsident Bill Clinton (4. Juni 1999)
Erkin Sidick (Erkin Sidiq), uigurisch-US-amerikanischer Chefingenieur der NASA, Menschenrechtsaktivist[144] und erster Ehrenvorsitzender der 2009 in Istanbul gegründeten Uyghur Academy (UA)[145]
Veranstaltung gegen den „Genozid in Ostturkestan“ mit Kulturprogramm (Washington, D.C., 3. August 2014)
Ethnisch-uigurische Journalisten des Senders Radio Free Asia
RFA-Journalisten (von links nach rechts): Shohret Hoshur, Eset Sulaiman, Mamatjan Juma, Gulchehra Hoja, Kurban Niyaz, Jilil Kashgary (12. Dezember 2018)
Gulchehra Hoja (zweite von links) und zwei weitere Uiguren, deren Verwandte in China inhaftiert oder verurteilt wurden, mit US-Außenminister Mike Pompeo (rechts) (16. April 2020)
Laut RFA sollen Verwandte von mindestens fünf Uigurisch sprechenden RFA-Journalisten (Shohret Hoshur, Gulchehra Hoja, Mamatjan Juma, Kurban Niyaz, Eset Sulaiman) in China inhaftiert oder verschwunden sein, nachdem diese Reporter über Misshandlungen in China berichtet hatten[146][147]

Uiguren sind auch in beträchtlicher Zahl in die USA ausgewandert.[128] In den 1990er Jahren emigrierte eine Anzahl von Uiguren in die USA, bei denen es sich zum größten Teil um politische Flüchtlinge handelte, die damit auf eine anhaltende und rücksichtslose chinesische Repression reagierten. Auch die Uiguren aus der zentralasiatischen Region flüchteten in sichere Staaten wie die USA, um dort Asyl zu beantragen.[2] Die Migrationsroute der Uiguren führt aufgrund der von den chinesischen Behörden auferlegten Beschränkungen zunächst in die zentralasiatischen Länder, in die Türkei, nach Deutschland und von dort in die USA.[2]

Obwohl die Uiguren in den USA als kleine Diaspora-Gruppe gelten, haben sie sich durch ihr ethnisches Bewusstsein als Uiguren hervorgetan und wurden zu einer der erfolgreichsten Diaspora-Gemeinschaften in den USA. Die Mitglieder der uigurischen Diaspora in Amerika zeichnen sich durch besonderen Erfolg in einer Vielzahl von Branchen und Dienstleistungen aus, wie Journalismus, Recht, Elektronik, Telekommunikation und Computer, Stromerzeugung und Bankwesen. Die Bevölkerung der heute (Stand: 2010) rund 1000 Uiguren in den USA konzentriert sich vorwiegend in Orten wie Washington, D.C., Virginia, Maryland und der kalifornischen Stadt Los Angeles. Das Fortbestehen ihrer Verbundenheit mit der uigurischen Kultur auch in der Diaspora zeigt sich in ihren traditionellen Festen und Zeremonien sowie in anderen soziokulturellen Aktivitäten. Neben uigurischen Magazinen, Zeitungen und Literatur existieren auch Internet-Websites, die ausschließlich für Uiguren erstellt wurden und ebenfalls separatistisch für die Schaffung eines uigurischen Staates ausgerichtet sind.[2]

Die in die USA eingewanderten Uiguren legen ihren Fokus auf Menschenrechtsverletzungen und Opposition gegen China, nicht jedoch auf den Islam.[128] Zu den uigurischen Organisationen in den USA gehört die Uyghur American Association (UAA) mit Sitz in Washington und die ebenfalls in Washington ansässige Exilregierung der Republik Ostturkestan (The Government-in-Exile of East Turkistan Republic). Die Exilregierung der Republik Ostturkistan wurde am 14. September 2001 von ihrem derzeitigen Ministerpräsidenten Anwar Yusuf Turani gegründet, um in Amerika Öffentlichkeitsarbeit über die Geschichte, Kultur und aktuelle politische Situation der Uiguren in „Ostturkistan“ (Xinjiang) zu betreiben. Die UAA ist ein prominenter uigurischer Kulturverein und dient als Dachorganisation für die in verschiedenen Teilen der USA und Kanadas lebenden Uiguren. Hauptziele der UAA sind zum Ersten die Förderung von Aktivitäten zum besseren Verständnis der uigurischen Kultur und des Informationsaustauschs zwischen Uiguren in Amerika und Uiguren in anderen Teilen der Welt. Zum Zweiten strebt die Vereinigung die weltweite Sammlung aller Uiguren zum Kampf für eine unabhängige Republik Ostturkistan an. Die UAA betreibt seit 2004 das Uyghur Human Rights Project (UHRP), das darauf abzielt, Druck auf China auszuüben, um die Verfolgung von Uiguren und politischen Gefangenen zu beenden, negative Folgen von Entwicklungsprojekten in vorwiegend uigurisch besiedelten Teilen Xinjiangs zu überwachen und in Zusammenarbeit mit den USA und anderen weltweit einflussreichen Staaten wie Deutschland und Großbritannien wichtige Informationen über die Uiguren auszutauschen.[2] Die UAA war maßgeblichen Anteil an der Internationalisierung der Rebiya Kadeer-Frage. Die intensive Lobbyarbeit der UAA, der Appell uigurischer Diaspora-Organisationen und Menschenrechtsgruppen wie Amnesty International und Human Rights Watch sowie der Druck der US-Regierung führte einen Tag vor dem Besuch der US-Außenministerin Condoleezza Rice in China im April 2005 zur Entlassung Kadeers durch die chinesischen Behörden.[2] Der chinesische Staat reagierte mit Verärgerung darüber, dass der WUC-Präsidentin Rebiya Kadeer Asyl in den USA gewährt wurde.[148]

Die Uiguren in den USA verfügen über etwas andere Charakteristika in Bezug auf ihren Status vor der Auswanderung als etwa jene in Deutschland, da viele Uiguren in den USA im Gegensatz zu denen in Deutschland als Studenten aus städtischen Zentren in Xinjiang und mit Bildungshintergrund in die USA kamen[56][131] und einige einen Akademischen Grad in verschiedenen Berufsrichtungen vorweisen konnten.[131] Uiguren in und um Washington, D.C. engagieren sich üblicherweise aktiv für politische Interessen und nutzen ihre Netzwerke, um ihre Angelegenheiten in Regierungskreisen öffentlich bekannt zu machen. So sensibilisiert die Charta der UAA zum Beispiel für die kulturelle und politische Situation in Xinjiang und bietet Uiguren ein virtuelles Forum, um lokal und weltweit miteinander in Kontakt zu treten. Andere Programme wie das UHRP konzentrieren sich ausschließlich auf Menschenrechte, Religionsfreiheit und Demokratie in Xinjiang.[56]

Bei dem von den USA finanzierten und in Washington ansässigen Nachrichtensender Radio Free Asia arbeiten mehrere Uigurisch sprechende oder ethnisch-uigurische Journalisten für den uigurischen Dienst des Senders, der eine aggressive Berichterstattung über die Situation in Region Xinjiang anbietet.[146] Sie haben die harten Bedingungen in den Lagern Xinjiangs und Todesfälle in Polizeigewahrsam dokumentiert.[146][149] Nachdem die chinesische Regierung seit 2017 massenhaft Uiguren und andere Mitglieder von Minderheitengruppen in politischen Umerziehungslagern inhaftiert hatte und die RFA-Reporter über das breit angelegte Vorgehen des chinesischen Staates berichtet hatten, wurden laut RFA-Angaben von Februar 2018 enge Verwandte von mindestens fünf der Journalisten des uigurischen Dienst von RFA von chinesischen Behörden festgenommen oder verschwanden. Bei mindestens drei der Reporter (Shohret Hoshur, Gulchehra Hoja und Mamatjan Juma) handelte es sich laut RFA um US-amerikanische Staatsbürger, während mindestens ein Reporter (Kurban Niyaz) als dauerhafter Einwohner der USA über eine Niederlassungserlaubnis (Green Card) verfügte.[146][147]

Andere Staaten[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der politische uigurische Aktivist Urkesh (Wu'erkaixi) für VOA im Exil in Taiwan (Januar 2016)
Podest einer Skulptur („Säule der Schande“) als Mahnmal für die Niederschlagung der Tian’anmen-Proteste 1989 (Foto: 2005)
Urkesh war einer der bekanntesten Studentenführer der Tiananmen-Proteste von 1989[150][151] und eine der meistgesuchten Personen auf der Fahndungsliste nach deren Niederschlagung,[150] die das Ende der politischen Reformperiode in China markierte.[152]

Der in Beijing geborene und vor allem unter seinem chinesischen Namen Wu'erkaixi bekannt gewordene uigurische Aktivist Urkesh kann als ein Beispiel für Uiguren gelten, die außerhalb von Xinjiang eine wichtige Rolle eingenommen haben. Uiguren wie die Familie von Urkesh hat es aus verschiedenen Gründen in Städte im Inneren China gezogen.[1] Urkesh gehörte zunächst zu den prominentesten Studentenführern der Tiananmen-Proteste von 1989,[150][151] war nach der Niederschlagung der Tiananmen-Proteste die zweitmeist gesuchte Person auf der Fahndungsliste[150] und setzte seinen pro-demokratischen Aktivismus gegen die chinesische Regierung dann als bekannter Dissident aus dem Exil in Taiwan fort,[1][151] wo er seit 1996 lebt[153][154] und auch gegen die Politik Xi Jinpings und den seiner Ansicht nach seit etwa 1950 andauernden Versuch der KPCh, „den Geist der Uiguren zu brechen“, eintritt.[155] Als Ursache für die rücksichtslose Unterdrückung der muslimischen Bevölkerung Xinjiangs sieht er vorauseilendem Gehorsam der Regionalregierung gegenüber der chinesischen Zentralregierung an.[151] Seine wiederholten Bemühungen bei chinesischen Behörden in Macau, Tokio, Washington und Hongkong in den Jahren 2009 bis 2013 um eine Rückkehr nach China für ein Treffen mit seinen Eltern, denen eine Ausreise zu diesem Zweck untersagt wurde, lehnten die chinesischen Behörden beharrlich ab.[150]

In den späten 1940er Jahren wanderten Tausende Uiguren aus Sorge vor Verfolgung durch die chinesischen Kommunisten nach Pakistan aus. In Gilgit, einer Grenzstadt zwischen Kaxgar und Rawalpindi, lebten zu Beginn des 21. Jahrhunderts viele ihrer Nachkommen. Zu dieser Zeit lebten auch einige hundert uigurische Studenten in Pakistan und studierten in den meisten Fällen an den staatlich betriebenen Schulen die islamische Religion. Die in Pakistan lebenden Uiguren sind in gewisser Hinsicht recht weit in die Lokalbevölkerung assimiliert, indem beispielsweise Eheverbindungen zwischen Uiguren und Pakistani sehr verbreitet sind und die meisten Uiguren – unabhängig von Alter oder Geschlecht – in ihrer Gemeinschaft Urdu als Sprache gegenüber Uigurisch bevorzugen. Viele Uiguren Pakistans betreiben kleine Geschäfte.[156]

In Saudi-Arabien lebten zu Beginn des 21. Jahrhunderts schätzungsweise zumindest einige hundert Uiguren. In wirtschaftlicher Hinsicht sind die Uiguren in Saudi-Arabien recht gut in die Gesellschaft vor Ort integriert und besetzen in einigen Fällen wichtige Funktionen in der öffentlichen Verwaltung und in großen Privatunternehmen. Uiguren in Saudi-Arabien verfügen über großen Einfluss auf die uigurischen Auswanderer in anderen Staaten. Trotz des strengen staatlichen Verbots von politischen Aktivitäten in Saudi-Arabien unterstützen Uiguren aus Saudi-Arabien die uigurische Bewegung weltweit und nachdrücklich und unterstützen uigurische Emigranten bei der Niederlassung in ihren neuen Aufnahmeländern.[156]

Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Etwa vom 8. bis 15. Jahrhundert n. Chr. haben die Uiguren eine herausragende Rolle in der Geschichte Chinas und Innerasiens gespielt.[1] Sie gründeten im 8. Jahrhundert das Uigurische Kaganat. Nach dessen Untergang im 9. Jahrhundert entstehen zwei Nachfolgereiche der Uiguren: In der Gansu-Region das der Gansu-Uiguren und im Tarimbecken das Reich von Kocho.

Nach diesem mittelalterlichen Volk haben sich im 20. Jahrhundert die Uiguren der Modernen Geschichte benannt, bei denen es sich um eine turksprachige, muslimische Gruppe mit turko-persischen Traditionen handelt, die insbesondere im Tarimbecken lebt.

Kultur und Gesellschaft[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Historische Kultureinflüsse in der Region[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das Netz der antiken Seidenstraße im 1. Jahrhundert n. Chr. mit den im Norden über Turpan und Gulja (Yining) und im Süden entweder über Aksu und Kaxgar oder über Hotan und Kaxgar führenden Handelsrouten

Die uigurische Zivilisation hat sich innerhalb der zentralasiatischen Oasen-Städte der Seidenstraße entwickelt, namentlich in Aksu, Kaxgar, Hotan und Turpan.[113] Entlang der Seidenstraße kam es durch prosperierenden Handel zu einem vielfältigen Austausch unterschiedlichster Kulturen und Interessen. In der Region trafen sich aus dem Norden und Nordosten stammende nomadische Hirten wie die Mongolen ebenso wie aus dem Süden von Indien und Tibet kommende Hindus und Buddhisten, während aus dem Osten Han-Chinesen kamen und aus dem Westen wiederum Tocharer, Sogdier und Iraner. Diese verschiedenen Menschen und Völkerschaften trieben Handel und siedelten sich an.[79] Im Laufe ihrer Geschichte war die Region Xinjiang insbesondere aufgrund ihrer zentralen Lage entlang der „Seidenstraße“ in hohem Maße von kulturellem Austausch zwischen Ost und West geprägt.[157] Zahllose Menschen reisten als Händler, Migranten und Pilger weiter entlang diesem Netz von Handelswegen, auf denen sowohl zwischen den einzelnen Oasen, als auch zwischen den Berg- und Steppenregionen Zentralasiens der Transport von Menschen Religionen, Ideen, Technologien und Gütern stattfand.[79]

Heutige Situation[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Dass die Region auch heute noch auf einer „eurasischen Kreuzung“ liegt, lässt sich besonders an den verschiedenen politischen, kulturellen und religiösen Einflüssen erkennen, die ihren Niederschlag in der lokalen Architektur, Sprache und Identitätsbildung gefunden haben.[158] Auch die Vielfalt an Genres und Stilformen von Volksmusik, Poesie, Tanz, Kunst und Erzählungen der Uiguren ist ein Ausdruck ihrer ebenfalls vielfältigen und komplexen Geschichte.[79]

Die Uiguren gelten als die den Han-Chinesen kulturell und sprachlich divergierendste ethnische Gruppe in China. Die uigurische Sprache ist eine eigenständige Turksprache und grundlegend verschieden von den vorherrschenden chinesischen Sprachen und Dialekten. Die uigurische Kunst und Architektur blickt vielmehr auf Traditionen osmanischer und türkischer Kunstgeschichte zurück, als dass sie mit den künstlerischen Praktiken Zentralasiens vergleichbar wäre.[62][80]

In China stellen die Uiguren die bevölkerungsreichste ethnische Gruppe der muslimischen Turkvölker dar. Die vier anderen Turkvolk-Nationalitäten sind nach Bevölkerungsanzahl geordnet die Kasachen, Kirgisen, Usbeken und Tataren.[128] Den Uiguren kulturell und sprachlich sehr ähnlich sind die Usbeken. Tatsächlich werden Usbeken und Uiguren in Teilen Zentralasiens als Angehörige derselben ethnischen Gruppe angesehen,[128] und auch die Uiguren heben die sprachliche und kulturelle Nähe zu den Usbeken oft hervor.[81]

In den 1980er Jahren bis in die 2010er Jahre erlangte ein modernes Konzept „uigurischer Bräuche“ in Xinjiang Popularität, das aber nach 2016 seinen Niedergang erlebte. Denn der Versuch uigurischer Intellektueller zwischen der modernen chinesischen Gesellschaft und den uigurischen Gemeinschaften zu vermitteln und durch kulturelles Schaffen eine spezifisch uigurische Moderne vorzustellen, endete abrupt mit der Inhaftierung vieler ihrer Protagonisten und dem allgemeinen harten Durchgreifen des Sicherheitssektors gegen Minderheiten und ihre Kultur in Xinjiang ab 2017.[159]

Identität[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Traditionelle Kopfbedeckungen der Uiguren in Kaxgar
Doppa-Macher
Pelzmützen-Verkauf auf dem Freiluft-Bazaar
Traditionelle Mode der Uiguren in Kaxgar
Pflege der Barttracht beim Barbier (2008)
Kleid mit farbenfrohem Muster auf dem Großen Bazaar (2017)

Aus etischer Perspektive können Uiguren entweder als eine der offiziell anerkannten Minderheitsnationalitäten (少数民族) der VR China betrachtet werden – wie etwa auch Tibeter und Mongolen – oder aber als einzige der zentralasiatischen Nationalitäten (Nationen) – wie etwa Usbeken und Tadschiken –, die keinen eigenen unabhängigen Nationalstaat besitzt. Kulturell sind die Uiguren als zentralasiatisch einzuordnen, doch liegt ihre Heimat zum größten Teil innerhalb der heutigen Staatsgrenzen Chinas.[160]

Aus emischer Perspektive sehen sich die Uiguren den zentralasiatischen Völkern kulturell und ethnisch als nahestehend an.[161] Ein bedeutender Aspekt der heutigen uigurischen Kultur ist der Wunsch nach Unabhängigkeit. Angesichts der kulturellen und religiösen Unterschiede zwischen uigurischen Chinesen einerseits und stärker sinisierten Minderheiten und Han-Chinesen andererseits, steht der Wille zur Unabhängigkeit für die uigurische Identität im Vordergrund.[162] Ein uigurischer Separatismus findet allerdings nicht nur wenige Anhänger, ist lediglich locker organisiert und verfügt über mangelhafte Ressourcen, sondern kann auch auf keinen Konsens oder eine gemeinsame Agenda der Uiguren zurückgreifen. Denn während einige Uiguren Unabhängigkeit anzielen und manche anderen lediglich die Wahrung kultureller Unterschiede und einen autonomen Status der Region Xinjiang innerhalb Chinas anstreben, wünschen sich wiederum andere Uiguren eine noch bessere Integration in das chinesische System. Die Selbstidentifikation der Uiguren ist nicht einheitlich ausgeprägt, sondern weist unterschiedliche Formen auf, die zudem häufig fließend ineinander übergehen. Von einer pantürkisch ausgerichteten Gruppierung, die eine Form der uigurischen Identität vertritt, für die sie in Menschenrechtsangelegenheiten Unterstützung westlicher Staaten gegen die chinesischen Behörden sucht, kann eine panislamisch orientierte Gruppierung unterschieden werden, deren uigurische Selbstidentifikation antiwestliche und antiamerikanische Züge aufweist. In den Nachfolgestaaten der Sowjetunion leben zudem uigurische Diasporas, die eher mit Afghanen und Russen Umgang pflegen als mit Türken.[163]

Das Feiern religiöser Feste wie roza heyt (Fest des Fastenbrechens), qurban heyt (Opferfest) und noruz (Neujahrsfest), Hochzeiten, Bestattungsriten, Zusammenkünfte zur Beschneidung von Jungen, Ausflüge auf die Nachtbazare und in für uigurisches Publikum bestimmte Diskotheken sind Ereignisse, die die Mehrheit der Uiguren gemeinsam miteinander unternehmen, auch unabhängig davon, ob sie sprachlich bevorzugt in einer sinisierten Umgebung agieren. Diese vielfältigen Aktivitäten werden nur von Uiguren gemeinsam besucht und tragen daher zur Schaffung eines Gemeinschaftsgefühls unter Uiguren bei, während Han-Chinesen nur gelegentlich als Gäste teilnehmen.[164]

In Bezug auf die politische Organisation herrschten vom 9. bis zum 13. Jahrhundert n. Chr. uigurische Könige über einen Großteil des nördlichen Turpan-Beckens, und im 17. Jahrhundert konsolidierten Naqschbandīya-Sufis die Macht über das südliche Tarim-Becken, bis Qing-Soldaten sie Mitte des 18. Jahrhunderts stürzten.[165] Xinjiang wurde damit recht spät in das chinesische Reich eingegliedert.[165][166] Die Uiguren hatten andere historische Beziehungen zur Han-Mehrheit und zum chinesischen Staat als etwa die Hui-Chinesen und waren im Gegensatz zu diesen nicht geografisch über ganz China verteilt, sondern in Xinjiang konzentriert. Insbesondere Oasenstädte im Süden von Xinjiang, wie Kaxgar und Yarkant, bildeten Ballungszentren.[165] Als Folge sprachlicher, ethnischer, religiöser und historischer Kulturbildung, haben die Uiguren einen starken Identitätssinn entwickelt, der sich weitgehend von jenem der Han- und Hui-Migranten in Xinjiang abgrenzen lässt.[165]

Äußerlich erkennbare Abhebung von der Mehrheitsgesellschaft[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die muslimischen Turkvolk-Minderheiten von Xinjiang, wie Uiguren und Kasachen, sind Türken weitaus ähnlicher als chinesischstämmigen Ethnien.[62][80] Die Uiguren sprechen eine eigene Sprache, die sich als Turksprache von den chinesischen Sprachen abhebt.[165] Die Fachenzyklopädie Muslim Peoples: A World Ethnographic Survey beschrieb die phänotypischen Merkmale der uigurischen Ethnie noch 1984 als „relativ große Menschen mit braunen Haaren, brauner oder hellerer Augenfarbe, Adlernasen und heller Haut“. Nach Angaben der Enzyklopädie waren unter uigurischen Männern „dicke Schnurrbärte und Bärte der türkischen Völker Zentralasiens“ beliebt.[4]

Infolge der Abhebung von den Chinesen und Ähnlichkeit zu den Völkern Zentralasiens identifizieren sich die Uiguren stark mit turksprachigen Muslimen in Zentralasien.[165]

Tracht und Mode[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Frau bei der Traubenernte in der Turpan-Senke (China Pictorial, 1963)
Tänzerin bei einer „Ostturkestan“-Veranstaltung in Washington (2014)
Auf den Bildern sieht man die bei Turkvölkern traditionell für Frauen typische Haartracht von mehreren kleinen Zöpfen[167]
Frauenmode in Ostturkestan (Anfang 20. Jh.)
In Kaxgar hergestellter und in Maralbaschī erworbener Ohrring (zīrä-Typ) mit reicher Filigranarbeit (6,1 cm hoch)[168]
Eine junge Frau aus Kuqa mit der typischen Schminkweise, die die Augenbrauen verbindet[169]
Bild links: Ohrringe waren der beliebteste Frauen-Schmuck im ganzen Gebiet, bestanden stets aus einem Ring starken runden Silberdrahtes, der mit reichem Filigranschmuck verziert werden konnte, und wurden gern zusammen mit hinter den Ohren gesteckten Blumen (wie Ringelblumen) getragen.[168]
Bild rechts: Zwar galt für Mädchen und Frauen ein stärkerer Einsatz importierter chinesischer Schminke (úpā) – wie in der Halbwelt üblich – als unsittlich, doch war demgegenüber der Brauch sehr verbreitet, mit einer blauschwarzen Farbe (ósma) die Augenbrauen mit einem Strich so nachzuziehen, dass der Eindruck von über der Nasenwurzel zusammengewachsenen Brauen entstand[169]

Noch im 19. Jahrhundert herrschte in der ostturkestanischen weiblichen Altishahri-Bevölkerung (heutige Uiguren) die gleiche Haartracht wie bei den übrigen Turkvölker, wobei die Mädchen einen langen, mit Bändern geflochtenen Zopf trugen, der frei am Rücken herabhing, die Frauen dagegen mehrere kleine Zöpfe.[170]

1984 berichtete Schwarz, dass die meisten stadtbewohnenden uigurischen Männer westliche Kleidung angenommen haben wie Anzüge und die käpkä, eine Schirmmütze nach russischer Art, während traditioneller Eingestellte weiterhin eine runde doppa (Mütze) trugen. Während sich viele jüngere Männer bereits barhäuptig bewegten, hielten ältere Männer noch weiterhin am Brauch fest, ihre Köpfe in der Öffentlichkeit zu bedecken, ob mit einer doppa oder einer käpkä. Die doppa wurde dabei in der Regel nicht zusammen mit chinesischen Stoffschuhen getragen, sondern nur mit Lederschuhen.[171]

Frauen trugen laut Schwarz (1984) fast überall, so auch in großen Städten, das traditionelle, locker sitzende Baumwollkleid, in der Regel mit großen Blumenmustern, sowie dazu ein Kopftuch oder eine doppa als Kopfbedeckung.[171] In den 1990er Jahren begann eine lokale Wiederbelebung des Islams in Xinjiang, die paradoxerweise durch die zunehmende staatliche Kontrolle von Religion und Kultur nach den Unruhen in Ürümqi von 2009 beschleunigt wurde. Indem die Regierung versuchte, von ihr als Bedrohung durch Separatismus empfundene Strömungen zu unterdrücken, entfremdete sie die Uiguren noch weiter und förderte somit deren Frömmigkeit nicht nur in der Religionsausübung, sondern auch in ihrem äußerlichen Erscheinungsbild.[172] So konnte man laut der Ethnologin und Politologin Smith Finley im Jahr 2004, als das Wiederaufleben des Islams an Tempo zunahm, im uigurischen Bezirk von Ürümqi häufig Frauen und selbst junge Mädchen sehen, die Niqab oder Hidschāb trugen.[173] Bis 2009 bildeten Frauen, die sich auf diese Weise vollständig verschleierten, jedoch eine winzige Minderheit und hoben sich sowohl von dem traditionellen leichten Kopftuch ab, das über den Haaren hinter dem Nacken zusammengebunden war, als auch von den vielen – in der Regel gebildeten – Frauen, die sich mit unbedecktem Kopf in der Öffentlichkeit bewegten.[172] Nach 2009 kam es zu einer Veränderung, die sich in einer sichtbaren und umstrittenen Kleidungswahl von Frauen ausdrückte.[172] Im uigurischen Teil Ürümqis bedeckten sich nun zahlreiche junge Frauen in der Öffentlichkeit mit einer von den Uiguren „arabischer Stil“ genannten Kleidung, einige auch mit körperlangen schwarzen Roben und darunter mit dem Niqab-Gesichtsschleier, während andere alternativen Moden folgten und ihre Köpfe mit Imitaten karierter Burberry-Schals bedeckten.[172] Noch im Jahr 2016 trugen viele junge Frauen in Ürümqi in Anlehnung an den globalen Modetrend für muslimische Frauen eine Kopfbedeckung im Turban-Stil oder eine abgewandelte Version des Hidschāb, während sich im Süden bereits die repressiven Maßnahmen des chinesischen Staates auf die Kleidung und Mode der Bevölkerung auszuwirken begannen.[173]

Mit der Implementierung der „De-Extremisierungs“-Verordnungen seit 2017 wirkte sich die erzwungene Säkularisierung auch auf das äußere Erscheinungsbild der uigurischen Bevölkerung aus. Aufdringliche staatliche Kontrollen auf religiöse Kleidung führten dazu, dass Schleier und Kopftücher verschwanden, Frauen kürzere Kleidung und Männer kein Barthaar mehr trugen. Im Sommer 2018 sah man in Ürümqi kaum noch mehr als hauchdünne Chiffon-Kopftücher, während in Kaxgar bereits keinerlei Kopfbedeckungen mehr zu finden waren. Entsprechend waren bis auf die Alten auch die uigurischen Männer, die bis dahin Bärte oder zumindest einen Schnurrbart getragen hatten, glatt rasiert.[173]

Verhältnis zu Han-Chinesen und zur Minderheitenpolitik Chinas[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Stereotype von Uiguren im Xinjiang Museum in Ürümqi
links: Ausstellung 13 Ethnien des Uigurischen Autonomen Gebiets Xinjiang (Juni 2012), die im Bereich über die uigurische Minderheit eine junge tanzende Uigurin und einen Musik spielenden Uiguren zeigt. – Die chinesische Regierung fördert das ethno-touristische Image der Uiguren als singende und tanzende, aber rückständige Minderheit.[10][56][164][174]
rechts: Ethno-touristisches Arrangement in der „Ausstellung ethnische Minoritäten“ (2018), das einen Kebab grillenden uigurischen Straßenverkäufer, eine neben ihm mit dem Victory-Zeichen posende Touristin und einen die beiden fotografierenden Touristen darstellt.[175][176] – Der Kebab-Verkäufer ist das häufigste stereotype Klischee für Uiguren in China und wird oft abfällig gebraucht.[177] Bereits 2015 führte ihn die Ausstellung „Uigurische Kultur“ des Museums als verschwindendes Relikt der „Minderwertigkeit“ vor, das der Unterhaltung moderner Han-chinesischer „Grenzbauern“ dient. Als angestrebtes Leitbild der VR China kann laut Tobin die Sinisierung „rückständiger Grenzbarbaren“ durch eine von Han-Chinesen durchgeführte Modernisierung angesehen werden.[178]
„Uigurisches Haus“ im Tourismuskomplex FCV in Shenzhen
Uigurisches Haus (2013)
Innenraum des Hauses (2017)
1991 wurden in den China Folk Culture Villages (FCV) ethnografische Ausstellungen eingerichtet, in denen dem Publikum Darbietungen geboten werden[179] und zumeist junge und hübsche „Bewohner“ traditionelle Fertigkeiten ihrer Ethnie in Handwerk, Gesang, Musik, Tanz oder anderer Folklore zeigen.[180] Zu den ausgestellten nationalen Minderheiten zählen auch die Uiguren.[180]
Uigurinnen als neues „exotisches“ Schönheitsideal in China
Chinesische Staatsmedien beschrieben in jüngerer Zeit prominente ethnisch-uigurische Schauspielerinnen wie Dilraba Dilmurat und Madina Memet als „exotische“ Schönheiten mit zentralasiatischen Merkmalen wie großen Augen, doppelten Augenlidern und hohen Nasenrücken, die ein neues, stärker eurasiatisch geprägtes chinesisches Schönheitsideal verkörperten, das sich dem verwestlichten Geschmack einer neuen chinesischen Generation anpasse und im Filmgeschäft von einem Nischendasein zum Mainstream bewege[181][182][183]
Mutmaßliche Umerziehungs- und Hafteinrichtungen in Xinjiang, die seit 2017 erbaut oder erheblich erweitert wurden
(Quelle: ASPI-Studie vom 24. September 2020)[184][185]
Legende:
- : Umerziehungseinrichtung geringer Sicherheitsstufe
- : Umerziehungseinrichtung höherer Sicherheitsstufe
- : Hafteinrichtung
- : Gefängnis mit höchsten Sicherheitsvorkehrungen
- : Umerziehungs- oder Hafteinrichtung ohne Einordnung der Sicherheitsstufe
- : Gebirge
- : Stadt

Während die Handhabung der Minderheitenfrage durch die Kommunistische Partei Chinas für die meisten der 55 offiziell anerkannten Minoritäten Chinas im Großen und Ganzen als recht erfolgreich bewertet werden kann, ist sie für zwei der Minderheiten – namentlich die Tibeter und die Uiguren – nicht oder nur sehr unzureichend gelungen.[62] Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Tibetern und Uiguren einerseits und den anderen ethnischen Minderheiten andererseits besteht darin, dass die separatistischen Bewegungen unter diesen beiden weitaus hartnäckiger waren. Außerdem sind die Unterschiede zwischen ihnen und den im Staat dominierenden Han-Chinesen größer und tiefergehend als bei den meisten anderen Minderheiten. Wesentlich stärker ausgeprägt als bei anderen Minderheiten ist bei ihnen eindeutig das Bestehen auf einer starken Identität einerseits und die Abneigung – insbesondere unter politischen und kulturellen Eliten – zur Akzeptanz der chinesischen Hoheitsgewalt. Zwischen ihnen als ethnischen Minderheiten auf der einen Seite und den Han-Chinesen sowie dem chinesischen Staat auf der anderen Seite herrscht eine vergleichsweise hohe Intoleranz.[62] Im Gegensatz zu den ebenfalls muslimischen Hui-Chinesen verbinden sich die Uiguren selten ehelich mit Han-Chinesen.[166]

Junge Uiguren sind heute von Restriktionen staatlicher Politik sowohl in Bezug auf ihre Religion als auch in Bezug auf ihre Kultur betroffen.[186] Zwar unterliegen uigurische und muslimische Schüler trotz des allgemeinen chinesischen Gesetzes, nachdem religiöse Praktiken in Schulen nicht erlaubt sind, offenbar einer flexibleren Handhabung und können Hidschāb (im Fall der Mädchen) und doppa (im Fall der Jungen) in der Schule tragen oder in separaten Cafeterien Mahlzeiten ohne Schweinefleisch erhalten.[187] Uigurischen Studenten wird jedoch das Praktizieren des Islam im öffentlichen Raum verboten. So dürfen sie weder die Moschee besuchen, noch im Koran lesen oder während des Fastenmonat Ramadan fasten. Uiguren an Universitäten werden davon abgehalten, den doppa genannten, traditionellen uigurischen „Hut“ zu tragen. Das gleiche gilt für den burut genannten Oberlippenbart, der für viele uigurischen Männer ein Symbol für Männlichkeit darstellt. Diese religiösen und kulturellen Restriktionen stellen eine Bedrohung für das Fortbestehen ihrer ethnischen Identität dar.[186]

Während die ebenfalls muslimischen Hui-Chinesen oft als vorbildliche Minderheit wahrgenommen werden, die sich als „gute Muslime“ an der Staatsmacht beteiligen, werden die Uiguren im Gegensatz dazu als „schlechte Muslime“ dargestellt, allerdings in Verkennung der historischen Realität, da auch die Beziehung zwischen den Hui im Nordwesten Chinas zu dem historischen chinesischen Staat keineswegs ruhig verlaufen war.[165]

In der nationalen Vorstellung Chinas bestand die Rolle ethnischer Minderheiten darin, China als multiethnische, vielfältige und „farbenfrohe“ Gesellschaft darzustellen.[188] Verschiedene Aspekte der Politik der KPCh in Bezug auf Tourismus, Kulturerbe und ethnische Minoritäten spiegeln sich in zwei Themenparks zum Kulturerbe wider, die Ende des 20. Jahrhunderts in Shenzhen (Provinz Guangdong), einer neu gebauten Stadt nahe der Grenze zu Hong Kong, geschaffen wurden.[180] In der Sonderwirtschaftszone in Shenzhen wurde mit Kapital aus Hong Kong und offizieller chinesischer Unterstützung nahe dem Shenzhen Bay Hotel ein Tourismuskomplex mit ethnografischen Ausstellungen eingerichtet, zu dem die „Splendid China Miniature Scenic Spots“ (seit 1989) und die China Folk Culture Villages (FCV) (Zhongguo Minsu Wenhua; seit 1991) gehören.[179][180] Wenn auch das ursprüngliche Ziel darin bestanden hatte, internationale Besucher nach China zu locken,[180] wurden doch beide Standorte fast vollständig vom Inlandstourismus in Anspruch genommen.[179][180] Im Themenpark FCV sollen Architektur, Volkskunst (Musik, Tänze, Handwerk) und Kultur von über 20 der mehr als 50 nationalen Minoritäten (shao shu minzu) Chinas präsentiert werden.[179][180] Für jede vertretene ethnische Minderheit – so auch für die Uiguren – bilden in der Regel mindestens zwei Gebäude ein Themenpark-„Dorf“, in dem mehrere Darsteller dem fortlaufenden Publikumsstrom Darbietungen vorführen.[179] Die „Bewohner“, bei denen es sich um meist junge, gutaussehend und lebhaft wirkende Vertreter der jeweiligen Ethnie handelt, demonstrieren traditionelle Fertigkeiten in Handwerk, Gesang in eigener Sprache, Musik, Tanz oder anderen Folkloreaspekten. Die ethnische Minderheit der Uiguren ist unter anderem mit einer Moschee und einem uigurischen Haus vertreten, das zu den Replika-Gebäuden gehört, bei denen Elemente der traditionellen Architektur, Bauweise und Materialien berücksichtigt wurden. Tatsächlich handelt es sich bei den Darbietungen jedoch um ein Gemisch von authentischen und künstlichen Elementen. Die FCV verkörpern den Kern der KPCh in Bezug auf Demokratie, religiöse Freiheit und Unterstützung ethnischer Kulturen und wurden dazu ausgelegt, der eigenen Bevölkerung sowie der Weltöffentlichkeit ein Bild der Toleranz des chinesischen Sozialismus zu vermitteln.[180] Doch nimmt keine der Darstellungen nennenswert Bezug auf islamische soziale oder religiöse Merkmale. Die uigurische Moschee dient lediglich als Basar für den Verkauf uigurischer Produkte wie Textilien oder Teppiche. Die Ausübung des Islam bleibt mit dem allgemeinen Konzept der Ausstellung unvereinbar und es wird keine Möglichkeit geboten, die Religion mit der ihr anhängenden Bevölkerung in Verbindung zu bringen.[179] Die uigurische Moschee hat dabei wie auch das tibetanische Kloster keine religiöse Funktion, sondern wird als politisches Symbol und als touristischer Blickfang instrumentalisiert und die Integration der Minoritäten zur Darstellung einer „glücklichen chinesischen Familie“ und der Eintracht der Völker Chinas genutzt.[180]

Die Darstellung der ethnischen Minderheiten in China schlägt sich insbesondere auf zwei verschiedene Arten in einer starren und restriktiven Form nieder:[188]

Eine Form ist die Versicherheitlichung der ethnischen Minderheiten, bei der diese – insbesondere Uiguren und Tibeter – routinemäßig als Bedrohung für die nationale Sicherheit und Integrität Chinas betrachtet werden.[188] Die uigurische Gesellschaft in China wird mit Terrorismus in Verbindung gebracht.[56] Seit 2013 verschärften die Behörden ihre Bemühungen, physische Anzeichen und kulturelle Praktiken unter Uiguren zu identifizieren, die der Staat als religiöse Überzeugungen eingeordnet hatte, die nach Ansicht der Behörden dem Staat zuwiderliefen und daher von ihnen mit „Extremismus“ in Verbindung gebracht wurden. Besonders gut veranschaulicht die Kampagne „Project Beauty“ im Jahr 2013 die Bemühungen des Staates, unter den Uiguren die Verwendung kultureller uigurischer Ausdrucksformen ausfindig zu machen, die der Staat als „extremistisch“ erachtete. Die Kampagne strebte an, den Kleidungsstil uigurischer Frauen zu ändern, indem uigurische Frauen gezwungen wurden, im religiösen Sinn weniger sittsame Kleidung zu tragen und „ihre Schönheit zu zeigen“, indem sie auf Verschleierung und muslimisch geprägte Frauenbekleidung verzichteten. „Project Beauty“ war zwar eine Kampagne der ganzen Region Xinjiang, wurde aber im uigurisch geprägten Süden mit besonderem Nachdruck umgesetzt. In Kaxgar wurden Checkpoints für weibliche Gesichtsbedeckung eingerichtet, und CCTV-Kameras überwachten Frauen auf der Straße. Frauen, die beim Tragen von Schleiern in der Öffentlichkeit registriert wurden, erhielten einen Eintrag bei den Behörden und wurden gezwungen, sich an einer Umerziehung zu beteiligen, indem sie Propagandafilme ansehen mussten, in denen Frauen sich dafür einsetzten, die „Schönheit ihrer Gesichter“ in der Öffentlichkeit zu zeigen. Die staatliche Überwachung der Kleidung und anderer Merkmale der Religiosität unter dem Vorwand der Bekämpfung des „Extremismus“ war dabei jedoch nicht nur auf den öffentlichen Raum beschränkt, sondern wurde von regelmäßigen Hausdurchsuchungen und einem Großaufgebot von Han-chinesischen Parteikadern unterstützt, die die uigurische Landbevölkerung in Tausenden Dörfern langfristig überwachten.[189] Auch im Ausland lebende chinesische Uiguren werden in der auf Misstrauen beruhenden offiziellen Position Chinas unter potenziellen Sicherheitsbedenken behandelt. Anders als bei Chinas Behandlung im Ausland lebender Han-Chinesen, deren gemeinsame „Blutsbande“, Kultur, Werte, Interessen und Patriotismus betont wird, wendet sich der Staat an im Ausland lebende chinesische Uiguren unter der Annahme, dass sie eine Bedrohung für die chinesische Sicherheit darstellen könnten.[188] Insbesondere setzte China die Führung der uigurischen Diaspora in Verbindung mit Terrorismus.[56] Der staatliche chinesische Fernsehsender CGTN gab 2019 an, dass die uigurische Identität in China für die Uiguren eine Bürde darstelle, die darauf beruhe, dass Terroranschläge dazu geführt hätten, dass das spezifische Erscheinungsbild der Gesichter von Uiguren von Menschen aus dem Inneren China leicht mit bestimmten Stereotypen verbunden werde und insbesondere seit den Unruhen in Ürümqi 2009 Uiguren gegenüber Angst und Vorbehalte herrschen würden.[183]

Die andere Form ergibt sich dadurch, dass staatlich geförderter Tourismus und kulturelle Darbietungen das Bildes glücklicher, unschuldiger, feminisierter, erotisierter und „gelehriger“ ethnischer Minderheiten verbreiten.[188] Von den Uiguren in China wird vielfach das Bild eines überhöht feminisierten Gegenübers gezeichnet.[56][174] Wie in vielen anderen Ländern definiert und normiert sich in China die Mehrheitsgesellschaft, indem sie ihre Minderheiten durch visuelle Formen der Verkleinerung maßregelt.[56] Während Minderheiten beispielsweise als Gruppen wahrgenommen werden, die Trachten oder Kostüme tragen, tragen Mitglieder von Mehrheiten dieser Wahrnehmung nach Kleidung. Und während Minoritäten als Menschen dargestellt werden, die in ihrer „primitiven“ Lebensweise glücklich sind, werden Mehrheiten so dargestellt, dass sie eine Sehnsucht der Rückkehr zur Natur empfänden und sich gleichzeitig über ihren Status als moderne Persönlichkeiten bewusst seien.[56][190] Sowohl in der kollektiven Vorstellung als auch im politischen Diskurs in China werden Uiguren – wie die anderen ethnischen Minderheiten – als Vertreter für ein von der modernen Entwicklung abgeschnittenes Volk und als ein Symbol für Folklore aufgefasst und sind in erster Linie für ihre Tanz- und Musikdarbietungen bekannt.[164][191] Ein gutes Beispiel boten die öffentlichen Aufführungen der ethnischen Vielfalt in der Gala „Colourful China“, die vor der Eröffnung der Olympischen Spiele 2008 in Peking in Hongkong stattfanden. Diese Veranstaltung stellte die Minderheitengemeinschaften wie die Uiguren als exotische Gegenüber dar, die in der Zeit stehengeblieben seien und keinen Kontakt zur Moderne hätten. Dem chinesischen Multikulturalismus mit seinen farbenfrohen Spektakeln lag eine klare Abgrenzung in der hierarchischen Ordnung und Positionierung von Minderheiten zugrunde, die auch sexualisierte und triebhafte Darstellungen der Minderheiten benutzte.[56] Obwohl uigurische Frauen als Muslime in der Öffentlichkeit in sexueller Hinsicht konservativer auftraten als Han-Chinesinnen, wurden sie bereits in den 1980er Jahren wie andere Minderheiten erotisiert, indem sie als sinnlich und erotisch dargestellt wurden.[190][191][192] Die Exotik bezüglich der Minderheiten wird in jüngeren chinesischen Staatsmedien auch auf die körperlichen Attribute prominenter Uigurinnen als „exotische Schönheiten“ bezogen.[181][182][183] Zwar fördern chinesische Behörden das folkloristische Image der Uiguren als singendes und tanzendes Volk in besonderem Maße, doch haben die von der Regierung geförderten kulturellen Aktivitäten oftmals die Verbindung zu ihrer Herkunftsgemeinschaft verloren und wurden auf Shows reduziert, die für Han-Chinesen und ausländische Touristen ausgelegt wurden.[164] Der Staat kriminalisierte kulturelle Aktivitäten der Uiguren als Formen des „religiösen Extremismus“ und führte ihre Kultur gleichzeitig Touristengruppen in Form von Gesangs- und Tanzspektakeln vor.[10] Während große Teile der uigurischen Bevölkerung im Rahmen staatlich überwacht und interniert werden, stellten inszenierte Aufführungen die uigurische Kultur Xinjiangs als ein fröhliches Klischee dar, in dem junge Uigurinnen tanzend und lächelnd Touristen begrüßten.[10]

Ähnlich wie im Fall von rassistischen Stereotypen über Afroamerikaner in den USA wurde die exotisierte Darstellung der Uiguren als Menschen, die gerne singen und tanzen, zunächst mit der Wahrnehmung einer potenziell von ihnen ausgehenden Gefährlichkeit – im Sinne von Kriminalität wie etwa Drogenhandel – verbunden. Ab dem Jahr 2008 fand erstmals auch die Idee Eingang in die Vorstellung der chinesischen Mehrheitsbevölkerung, dass von den Uiguren eine „existenzielle Bedrohung“ ausginge. Dieser Wandel in der Wahrnehmung der Uiguren von einer als „minderwertig, halbkriminell und exotisch“ (Sean R. Roberts) angesehenen Gruppe hin zu einer „existenziellen Bedrohung“, erfuhr durch die Unruhen von Ürümqi im Jahr 2009 Auftrieb, als es sowohl zu ethnischer Gewalt von Uiguren gegenüber Han-Chinesen als auch umgekehrt und im Gefolge zu einer erheblichen Dämonisierung der Uiguren kam.[193] Diese öffentliche Wahrnehmung bestimmter Minderheitengruppen Chinas wie die der Uiguren führte zu einer umfassenden Kontrolle ihres sozialen Lebens. Von den Einschränkungen betroffen war beispielsweise ihr Zugang zum Internet und zu Hotelzimmern, sowie ihre Möglichkeit zur freien Bewegung oder auch zum Fotokopieren und Drucken.[188]

Separatistischen Bewegungen entgegenwirkende Faktoren[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Dem Unabhängigskeitsstreben der Nationalisten entgegen wirken verschiedene Faktoren. Erstens wird die Sprache in ihrer die uigurischen Gemeinschaften vereinenden Wirkung dadurch beeinträchtigt, dass die Uiguren in verschiedenen Staaten unterschiedliche Schriften wie Arabisch, Kyrillisch oder Lateinisch zur Niederschrift der Sprache verwenden und so ihre Kommunikation zwischen den Staaten erschwert wird. Zweitens behindern sich gegensätzliche Programme der unterschiedlichen uigurischen politischen Gruppen wie Pan-Turkismus, uigurischer Nationalismus, Säkularismus und Islamismus gegenseitig beim Verfolgen gemeinsamer uigurischer Ziele. Drittens scheuen alle in der jüngeren Zeit neu unabhängig gewordenen Turkvolkrepubliken aus geopolitischen Gründen vor der Unterstützung aufkeimender Unabhängigkeitsbewegungen wie die der chinesischen Minderheiten zurück, aus der Sorge, damit lukrativen Handelsabkommen oder politischer Unterstützung von der UNO im Weg zu stehen. Viertens führte die Angst vor muslimischen Bewegungen weltweit nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 allgemein zu einer Hemmung einiger uigurischer Bewegungen, insbesondere wenn diese ihre Religion als Zentrum der uigurischen Identität behandelten.[162]

Sinisierung der kulturellen Identität seit 2017[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

KPCh-Propaganda am Straßenrand nahe dem Turpan-Museum in Turpan (2018). Es zeigt eine von Weinreben und Blumen umgebene Frau mit Kopftuch, die ein kleines Kind im Arm wiegt und vermittelt auf Uigurisch und Chinesisch die Hauptbotschaft: 我把党来比母亲 (dt. etwa: „Ich vergleiche die Partei mit meiner Mutter“)
Dieser Slogan der Xi-Jinping-Ära greift die Mutterfigur als Kern der uigurischen Gemeinschaft an. Seine öffentliche Präsentation als traditioneller chinesischer Scherenschnitt verdrängt sinnbildlich die turkvölkische Kultur und ersetzt sie durch eine Form der ethnischen Han-Kultur.[194]

Vor allem seit 2017 treibt die chinesische Regierung Bemühungen voran, die uigurische Kultur unter eigene Kontrolle zu bringen, zu sinisieren und von der weiteren islamischen Welt abzutrennen.[8] Ziel der Angriffe ist dabei auch das uigurische kulturelle Erbe in einem Ausmaß, das die UNESCO als kulturelle Säuberung bezeichnet hat.[10] Zahlreiche Anzeichen wie die staatlichen Angriffe auf bedeutende kulturelle Ziele der Uiguren und die alle Lebensbereiche der Uiguren berührende staatliche Zerstörungswelle sprechen dabei dafür, dass der chinesische Staat eine breitangelegte Anstrengung unternimmt, die Erfahrungen und Identitäten der Uiguren von ihrer Landschaft zu trennen.[12] Nach Ansicht der deutschen Bundesregierung strebt die chinesische Regierung mit ihren Maßnahmen eine Sinisierung der religiösen und kulturellen Identität der uigurischen Minderheit in Xinjiang an.[23]

Die aktuelle chinesische Politik wird auch an Tilgungen der uigurischen Geschichte durch staatliche Behörden sichtbar, mit denen die uigurische Identität den Tatsachen widersprechend umgeschrieben wird.[195] So erklärte im August 2018 Yasheng Sidike als Bürgermeister und stellvertretender KPCh-Chef von Ürümqi, dass die „Uiguren keine Nachfahren der Türken, geschweige denn irgendetwas, was mit dem türkischen Volk zu tun hat“ seien, sondern „Mitglieder der chinesischen Familie“.[196][197] Im Jahr 2019 forderten die staatlichen Behörden in einem vom Staatsrat der Volksrepublik China herausgegebenen White Paper[198][199] der Regierung zur ethnischen Politik in Xinjiang, die „chinesische“ Kultur solle fortan als Kern aller anderen ethnischen Kulturen betrachtet werden und die Identität als Chinese sei als allen anderen Identitäten vorangehend anzusehen.[198][199]

Uigurische Vor- und Familiennamen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Historische Einflüsse auf die Namensgebung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im Laufe des langen geschichtlichen Bildungsprozesses der uigurischen Namen haben diese einen starken Wandel erfahren. Zu den historischen Einflussfaktoren, die sich auf die Namenskultur der Uiguren ausgewirkt haben, zählen zum Ersten die unterschiedlichen Wirtschaftsformen wie Nomadismus, Sesshaftigkeit, Urbanisierung und Industrialisierung. Weitere dieser Einflussfaktoren liegen vor in den religiösen Überzeugungen wie Schamanismus, Zoroastrismus, Buddhismus, nestorianisches Christentum und Islam. Und schließlich gehören in die Reihe dieser Einflussgrößen auch die unterschiedlichen Zivilisationen wie die eurasisch-nomadische, die Zivilisation der Oasen des Tarim-Beckens, die Han-chinesische, die indische, die persische, die griechisch-hellenistische, die arabisch-islamische und die moderne russisch-europäische.[200]

Herkunftssprachen der Namen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Namen in Xinjiang entsprechen im Allgemeinen der bemerkenswerten Vermischung der Kulturen, die an diesem alten Begegnungspunkt der östlichen und westlichen Zivilisationen aufeinandergetroffen sind. Die bei den Turkvölkern in Xinjiang heutzutage üblicherweise verwendeten Namen enthalten viele Ableitungen aus dem Arabischen oder Persischen, die auf den tiefgreifenden Einfluss der islamischen Kultur verweisen. Andererseits sind auch russische und chinesische Einflüsse auf die Wahl der Namen zu erkennen, worin sich die Bindung der Region an diese beiden starken kulturellen Traditionen niederschlägt.[200]

Laut dem Uyğur Kishi Isimliri (Führer für uigurische Namen) von Mutällip Sidiq Qahiri machten aus dem Arabischen abgeleitete Namen im Jahr 1998 über 80 Prozent aller uigurischen Namen aus.[201]

Vorislamische uigurische Vornamen
für Mädchen (gelb) und Jungen (grün)[200]
Name Bedeutung Name Bedeutung
Chechäk Blume Bars Tiger
Yultuz Stern Qaplan Leopard
Aykhan Mond Alp Held
Hidligh süßlich duftend Bilgä klug

Bedeutungen der Namen und Bedeutung der Namensgebung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In der vorislamischen Phase der Uiguren vor Mitte des 9. Jahrhunderts n. Chr., als sich diese Religion noch nicht aus dem Westen bis zu ihnen hin ausgebreitet hatte, führten die Uiguren eine Geburtszeremonie aus, bei der sie für das Neugeborene einen Namen wählten, der den Namenstraditionen der alten Turkvölker oder der Alt-Uiguren entsprach. Die Bräuche der uigurischen Namen und Nachnamen folgten in dieser Zeit den alten turki-uigurischen Namenstraditionen des Ersten und Zweiten Türk-Kaganats (552-744) sowie des Uigurischen Kaganats (744-840). In dieser Tradition herrschte der Glaube vor, dass der Vorname auf magische Weise Wirkung auf die Zukunft des Namensträgers ausüben würde. In dieser alten Tradition verkörperten uigurische Namen somit die vielen guten Wünsche der Eltern für die Eigenschaften ihrer Kinder, wobei den Mädchen über die Namen in der Regel Attribute der Schönheit zugewiesen wurden, während die Namen für Jungen ihre Stärke, ihren Genius oder Ähnliches ausdrücken sollten. Nicht nur während des Uigurischen Kaganats, sondern auch noch in der Zeit des Königreichs von Chotscho (850-1250) wurden für Vornamen häufig Wörter verwendet wie tömür („Eisen“), qara („schwarz, stark, groß“) und buqa („Bulle“) oder solche mit der Bedeutung von „Raubtieren“ (im Sinne von Beutegreifern und Greifvögeln) wie börä („Wolf“), arslan („Löwe“), toghril („Adler“), shingqur („Falke“), tunga („Leopard“), adigh („Bär“) und Qaplan („Leopard“).[200]

Uigurische Namensbildungen unter Einfluss arabischer und islamischer Kultur[200]
Name Bedeutung
Ibrahim ibni Yusuf Khotani Ibrahim, Sohn von Yusuf, geboren in Hotan
Molla Ismätulla binni Molla Nemätulla Möjizi Molla Ismätulla, dessen Vater Molla Nemätulla und dessen Pseudonym Möjizi ist
Äysa Hashim oghli Isa, Sohn von Hashim
Märiyam Saqim qizi Märiyam, Tochter von Saqim

Im zweiten Jahrtausend übte schließlich die arabische und islamische Kultur starken Einfluss aus und bewirkte im Hinblick auf die Namensgebung, dass die vergebenen uigurischen Namen in erster Linie aus den persönlichen Namen gebildet wurden, die sich im Koran und anderen islamischen religiösen Büchern vorfanden. Zudem fingen Manche und insbesondere Intellektuelle an, in schriftlichen Dokumenten die patronymischen Formen ibn oder bin (Arabisch für: „Sohn“ bzw. „Vater“) und oghli oder qizi (Uigurisch für: „Sohn von ...“ bzw. „Tochter von ...“) zu übernehmen.[200]

Nach- oder Familiennamen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts blieb die Verwendung von Nachnamen oder Familiennamen bei Uiguren, die traditionell nur Vornamen vergeben, unüblich.[200]

Erst ab den 1930er Jahren begannen manche Intellektuelle und einzelne Uiguren, die eigene Erfahrungen aus den ehemals sowjetischen zentralasiatischen Republiken oder in der Türkei mitbrachten, für sich neben ihrem persönlichen Namen auch einen Nachnamen zu verwenden. Dazu verwendeten sie russifizierte Nachnamen-Suffixe oder nahmen die turkische patronymische Form oghli (männlich) oder qizi (weiblich). Andere Intellektuelle lehnten die russische Art der Familiennamen ab und übernahmen das persische Pseudonym (im Sinne von: Künstlername) -i, das turkische Intellektuelle seit dem Mittelalter verwendeten. Die russifizierte Form der Familiennamen konnte sich für die uigurische Bevölkerungsmehrheit – trotz einer gewissen Beliebtheit bei Intellektuellen während der Drei-Bezirke-Revolution (1944–1949) – nicht durchsetzen.[200]

Schema „instabiler Familiennamen“
über mehrere Generationen[200]
Generation 1 Generation 2 Generation 3
Sidiq Tömür Abdurehim Sidiq Tahir Abdurehim

Nach 1949 fand die Bildung „instabiler Familiennamen“ unter Uiguren allmählich starke Verbreitung, indem der Vorname des Vaters als Familienname übernommen und für offizielle Dokumente direkt nach dem eigenen Namen geschrieben wurde. Wirkliche Familiennamen im eigentlichen Sinne blieben selten und waren meist vom Persischen abgeleitet. Die Verwendung von Familiennamen beziehungsweise ihrer patronymisch gebildeten Ersatzformen blieb auf Situationen beschränkt, in denen eine förmliche Identifikation benötigt wird, wie dies vor allem für amtliche Zwecke oder bei Reisen der Fall war. Die einfache Form der Bildung eines Nachnamenersatzes durch das schlichte Anhängen des Namens des Vaters an den seines Sohnes oder seiner Tochter stellte die häufigste Form der patronymisch gebildeten Nachnamenersatzformen dar und implizierte eine genealogische Verwandtschaftsbeziehung. Beispielsweise die Namen Äsäd Sulayman oder Rahilä Sulayman würden dabei die Bedeutung „Äsäd, Sohn des Sulayman“ beziehungsweise „Rahilä, Tochter des Sulayman“ beinhalten. Anders als bei den in den meisten europäischen Nationalstaaten üblichen Systemen stabiler Familiennamen muss sich der Familienname in diesem System also notwendigerweise beim Übergang in die jeweils nächste Generation ändern.[200]

Seit Anfang des 21. Jahrhunderts engagieren sich uigurische Intellektuelle für Reformen, um Problemen entgegenzuwirken, die mit der Standardisierung und chinesischen Transliteration uigurischer Vor- und Nachnamen auftreten.[200]

Verbote religiöser Namen seit 2017[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

2017 bekannt gewordene Liste behördlich verbotener Namen in Xinjiang[202]
Das neu-uigurische Onomastikon[203] wurde 2017 verboten[204]

Ein Schwerpunkt des mit Belangen der Inneren Sicherheit begründeten Vorgehens der KPCh seit Ende 2016 und 2017 lag in der ideologischen und politischen Umerziehung.[6] Seit Anfang 2017 griffen die regionalen Behörden massiv in die Lebensgestaltung der Uiguren ein. Nach dem Verbot von religiösen Hochzeitszeremonien oder dem Tragen „abnormaler“ Bärte kam es auch zu einem Verbot muslimisch religiöser Namen bei Neugeborenen.[100] Die chinesischen Behörden untersagten Eltern der ethnisch-uigurischen Minderheit, ihren neugeborenen Kindern Namen wie zum Beispiel Mohammed zu geben oder Namen, die nach Ansicht der chinesischen Behörden „extrem religiöse“ Bedeutung haben.[202] Das Verbot des Namens Muḥammad gehörte in den Kontext der möglicherweise striktesten Kampagne von Einschränkungen religiöser Bräuche für Uiguren in der VR China.[205] Später wurden auch Jugendliche dazu verpflichtet, als „übermäßig“ religiös eingestufte Namen abzulegen und stattdessen neue anzunehmen.[100]

Das 2010 erschienene, neu-uigurische Onomastikon des uigurischen Wissenschaftlers Mutällip Sidiq Qahiri[203] wurde in China verboten und 2017 auf die Liste gefährlicher Bücher gesetzt.[204] Dieses wichtigste Werk Qahiris, der Schaffer grundlegender Werke über Namen und Begriffsfamilien der uigurischen Sprache ist, listet in einem „Namenslexikon“-ähnlichen und nach Begriffsfeldern geordneten Teil uigurische Personennamen auf und erklärt ihre Herkunft, Bedeutung und Aussprache. Gegen Qahiri wurde laut Radio Free Asia in einem KPCh-internen Verfahren eine hohe Strafe verhängt.[204][206]

Sprache[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Linguistische Beziehungen des Alt-Uigurischen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die (Alten) Uiguren gehören zu den frühesten Sprechern einer Turksprache in Zentralasien und werden bereits in chinesischen Aufzeichnungen des 3. Jahrhunderts erwähnt.[60] Alt-Türkisch und (Alt-)Uigurisch werden oft als Synonyme verwendet.[207] Das Altuigurische als Variante des Alttürkischen ist die am besten bezeugte Sprache des vorislamischen Zentralasiens und zugleich die erste ausführlich dokumentierte türkische Literatursprache, woraus sich ihre große Bedeutung sowohl für die Turkologie und allgemeine Sprachwissenschaft ergibt, als auch für die vielfältige Kulturgeschichte der Seidenstraße.[208]

Die Sprache wurde sowohl von den Türk (Köktürken) als auch von den (Alten) Uiguren gesprochen, die die Türk auf dem Gebiet der Mongolei verdrängten. Es handelt sich dabei um die Sprache, in der die frühesten erhaltenen turksprachigen und darüber hinaus auch die ältesten altaisprachigen (im Sinne von: Turksprachen, mongolische Sprachen und tungusischen Sprachen) Texte verfasst wurden. Ihre wichtigsten Sprachdenkmäler sind in der Mongolei entdeckte Grabstelen mit „Runen“-Inschriften aus der ersten Hälfte des achten Jahrhunderts, während kleinere, erhaltene Sprachfragmente möglicherweise schon aus dem sechsten Jahrhundert stammen.[207] Diese alttürkischen oder uigurischen Sprachdenkmäler sind somit nicht nur für die Geschichts-,[207] sondern auch für die Sprachwissenschaft außerordentlich bedeutend.[35][207] Zwei der in der Mongolei gefundenen alttürkischen Inschriften – die zu Ehren von Bayan Chor (auch: Moyun Čor) nach seinem Tod errichtete Inschrift von Šine-Usu und diejenige von Suji (Süüǰi) – wurden von den Uiguren errichtet.[35][207] Die in Ostturkestan – vor allem in der Region Turpan – gefundenen alttürkischen Manuskripten bezeichnen die Sprache, in der sie geschrieben sind, mit den synonym verwendeten Namen türk tili und uyγur tili (dt. etwa: Sprache der Türk, gleichbedeutend mit: Sprache der Uiguren). In Kolophonen einer Kopie des buddhistischen Suvarṇaprabhāsa Sūtra aus dem Ende des 17. Jahrhunderts wird sogar den Begriff „türk-uigurische Sprache“ (türk uyγur tili verwendet).[207]

Von den drei Dialekten, die innerhalb der alttürkischen Sprache unterschieden werden können, wurde der erste von den Türk gesprochen, der zweite von den (Alten) Uiguren (auch in manichäischen Schriften verwendet) und der dritte in Ostturkestan (typisch für buddhistische Schriften, üblich auch in profanen Schriften, Rechtsdokumenten und medizinischen Schriften). Die Unterscheidung dieser drei Dialekte wird üblicherweise anhand der Variation von ń (palatisiertes „n“) ~ n ~ y vorgenommen, etwa am Beispiel des Wortes für „schlecht“: ańïγ ~ anïγ ~ ayïγ. Nach der Abwanderung aus der Mongolei in das Tarimbecken gaben einige uigurische Gruppen ihren ursprünglichen anïγ-Dialekt auf und übernahmen stattdessen den in der Region bei einigen anderen turksprachigen Völkern gebräuchlichen ayïγ-Dialekt.[207]

Der Wortschatz des Alttürkischen enthält eine beträchtliche Anzahl von Lehnwörtern, die aus dem Chinesischen, Sogdischen, Tocharischen, Sanskrit (direkt oder indirekt) und aus einigen weiteren Sprachen entlehnt wurden. Diese Entlehnungen treten am häufigsten in buddhistischen Texten auf und enthalten Fachbegriffe, die vor allem aus dem Sanskrit oder der chinesischen Sprache stammen. Bemerkenswerterweise fehlen Entlehnungen aus dem Mongolischen, während aber einige ugrische und samojedische Begriffe von frühem Kontakt zu den betreffenden Völkern zeugen. Im anïγ-Dialekt sind hingegen verhältnismäßig wenige Lehnwörter enthalten.[207]

Linguistische Beziehungen des Neu-Uigurischen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Verbreitung der uigurischen Sprache in China (rot) mit Kennzeichnung spärlich besiedelter Gebiete (rosa)
Verbreitung der Turksprachen (hell-rosa) in China mit Kennzeichnung spärlich besiedelter Gebiete (weiß)
Für frühes Lernalter visualisierte uigurische Begriffe (Wörter in arabisch- und lateinisch-uigurischer Schrift)

Die uigurische Sprache gehört zur Sprachfamilie der Turksprachen innerhalb der Gruppe der Altaischen Sprachen.[60][209] Innerhalb der Turksprachen wird das Uigurische in den Zweig der karlukischen Sprachen eingeordnet[61] und steht dem Usbekischen besonders nahe.[1][210]

Die meisten Uigurisch-Sprecher leben heute in Xinjiang, während das ehemals sowjetische Gebiet Zentralasiens eine weit kleinere Gruppe beheimatet. Uigurisch weist gemeinsame Merkmale, aber auch deutliche Unterschiede im Vergleich zu anderen Turksprachen auf.[209] So ist beispielsweise das allen Altaischen Sprachen gemeinsame Merkmal der Vokalharmonie im Uigurischen und dort insbesondere innerhalb von Wortstämmen verhältnismäßig schwach ausgeprägt. Ein weiteres Merkmal der uigurischen Phonetik ist das Erweichen von Vokalen und Konsonanten. Von anderen Turksprachen hebt sich Uigurisch zudem durch das Vorhandensein einer weit höheren Anzahl von Homonymen ab (wie etwa at für „Pferd“ und „Name“). Neben einem mit anderen Turksprachen gemeinsamen Wortschatz, der auch einige altertümliche Wörter aufweist (wie etwa al– für „nehmen“) hat Uigurisch andere altertümliche, aber nicht mehr aus anderen Turksprachen bezeugte Wörter bewahrt und weist auch rein uigurische Wörter auf. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal liegt mit der Bedeutungsänderung älterer oder übersetzter Wörter vor. Von anderen Turksprachen, soweit diese nicht ebenfalls in China gesprochen werden, unterscheidet sich Uigurisch zudem und durch seine große und schnell wachsende Anzahl chinesischer Lehnwörter. Allerdings enthielt der uigurische Wortschatz noch im Jahre 1944 zu 49 Prozent aus originär uigurischen, zu 33,4 Prozent aus arabischen und zu 7,5 Prozent aus persischen Wörtern, während Russisch und andere europäische Sprachen 5,5 Prozent und Chinesisch lediglich 2 Prozent des Wortschatzes stellten.[211]

Die Entlehnung aus dem Arabischen ins Uigurische nahm ihren Anfang im 14. und 15. Jahrhundert und diente in erster Linie als religiös-islamisches Vokabular. Die persischen Lehnwörter bezeichnen zu über der Hälfte konkrete Ideen und Namen von Gegenständen, während es sich beim Rest um arabische Lehnwörter handelt, die zunächst ins Persische aufgenommen und dann ins Uigurische übernommen wurden. Russische und andere europäische Lehnwörter sind verhältnismäßig jüngsten Datums und dienen hauptsächlich als technisches Vokabular (wie etwa aptomobil für „Auto[mobil]“) oder für einige politische Begriffe (wie etwa puroletariyat für „Proletariat“). Chinesische Lehnwörter schließlich können in solche alten Typs – die bereits vor 1949 verwendet wurden – und solche neuen Typs unterschieden werden. Diejenigen des alten Typs waren eher in der ländlichen Bevölkerung vertreten, da in den Städten lebende uigurische Intellektuelle chinesische Lehnwörter verachteten.[211]

Die neuuigurische Schriftsprache wurde ab 1921 in Russisch-Turkestan gebildet und ab 1949 auch als Schriftsprache der Uiguren in Xinjiang übernommen.[3] Bevor 1921 beschlossen wurde, den verschiedenen türkischen Dialekten der heutigen modernen Uiguren den gebräuchlichen Namen „Uiguren“ zu geben, waren die Uiguren von Russisch-Turkestan Taranchi („Bauern“) genannt worden, während die Sprache der Uiguren Xinjiangs unter den Bezeichnungen für die verschiedenen Oasen-Dialekte, in denen sie lebten, bekannt war, wie beispielsweise Qasgharliq (dt. etwa: „Kaxgarisch“) oder Turfanliq (dt. etwa: „Turpanisch“).[212] Obwohl die Sprache heute „Uigurisch“ genannt wird und ein uigurischer nationaler Mythos einer direkten Abstammung von den Alten Uiguren besteht,[1] geht diese neuuigurische Sprache nicht auf das zu den nordtürkischen Sprachen gehörende Altuigurisch zurück[3] und es liegt keine direkte Abstammung der heutigen Uiguren von den Uiguren des 8. Jahrhunderts vor,[4] vermutlich nur mit Ausnahme der „Gelben Uiguren“,[4][A 10] in deren Sprache das Altuigurisch fortlebt, während eine weitere direkte sprachliche Herleitung zu den Salaren unklar ist.[3] Die meisten Sprachklassifikationen stellten das moderne Uigurisch nicht nur in sprachverwandtschaftliche Verbindung zu bestimmten usbekischen und kirgisischen Dialekten, sondern auch zu weitaus kleineren Sprachgruppen wie den „Gelben Uiguren“ (Säriq) und Salaren.[4] Uigurisch geht demnach ebenso wie das ihm sehr ähnliche Usbekisch auf die Tschagataische Sprache zurück, die als türkische Literatursprache des islamischen Zentralasiens vom Mittelalter bis zum Ende des 19. Jahrhunderts diente.[212]

Politische Beziehungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im Gegensatz zu den Hui-Chinesen sprechen die meisten Uiguren keine Chinesische Sprache.[166] Trotz der lange zurückreichenden Besiedlung Xinjiangs durch die Uiguren, gerieten sie erstmals Mitte des 18. Jahrhunderts unter chinesischer Herrschaft.[165][166] Keinem der chinesischen Herrscher gelang es in den folgenden 250 Jahren jedoch, das uigurische Volk in das chinesische zu assimilieren.[166][A 11]

Eingangsbereich einer Mittelschule in Ürümqi (乌鲁木齐市第一中学) (2009)
Weiterführende Schule in Ürümqi (乌鲁木齐市高级中学) (2019)
Der Name der Schule ist in beiden Fällen im Eingangsbereich sowohl in chinesischer Schrift und Sprache als auch in Uigurisch angebracht

Mit zunehmender Höhe im Bildungssystem nimmt der Anteil des Chinesischen als Unterrichtssprache zu. Uigurische Sprachschulen sind in der Mittelschule weitaus seltener als in der Grundschule. Auf Universitätsniveau ist Chinesisch bei weitem die dominierende Unterrichtssprache. Der Trend geht dabei weiter in Richtung Chinesisch.[128] Im Hochschulbereich erfolgt der Unterricht letztlich in Mandarin. An der Xinjiang-Universität waren Kurse sowohl auf Chinesisch als auch auf Uigurisch unterrichtet worden, bis ein Regierungserlass im Jahr 2002 bestimmt hat, dass die meisten Kurse nur auf Chinesisch abgehalten werden.[64][128] Es wurde kritisiert, dass die Verengung praktisch des gesamten Universitätsunterrichts in Mandarin einen Hauptbestandteil der Kultur der ethnischen Minderheit der Uiguren untergrabe. Die Unterrichtssprache und der mangelnde Bezug des zentralisierten und standardisierten Lehrplans zu den Gemeinschaften der ethnischen Minderheiten insbesondere in ländlichen Gebieten gelten Kritikern als Hauptgründe dafür, dass die Prüfungsergebnisse der Minoritäten schwach ausfallen und Schüler, die ethnischen Minderheiten angehören, die Schulbildung vollständig abbrechen.[64] Heutzutage schicken viele uigurische Eltern ihre Kinder in chinesischsprachige Schulen, mínkǎohàn (民考汉) genannt, damit diese bessere Chinesischkenntnisse erwerben und dadurch bessere Jobchancen erhalten. Dies führt teilweise zu dem Vorwurf anderer Uiguren, die solche minkaomin-Schüler oft als zu stark von der Han-Kultur beeinflusst ansehen oder sie im schlimmsten Fall als Abtrünnige der uigurischen Kultur betrachten und behandeln können. Die minkaomin-Schüler selbst schämen sich manchmal für ihren Minderheitenhintergrund oder ihren „kulturellen Mangel“. Andere betrachten sich durch ihre chinesische Ausbildung als moderner, fortschrittlicher oder internationalistischer als diejenige aus Schulen mit Unterricht in Minderheitensprache,[128] mínkǎomín (民考民) genannt.[99] Allmählich erfasst alle chinesischen Minderheitenregionen der als sogenannte „zweisprachige Bildung“ (shuāngyǔ jiàoyù 双语教育) propagierte Trend einer immer breiteren und früheren Einführung des Chinesischen als Unterrichtssprache. Diese Sinisierung des Bildungssystems wird zumindest vordergründig damit plausibel begründet, dass die Beherrschung der „Verkehrssprache der Mehrheitsgesellschaft“ die Arbeitsmarktchancen erhöht und so bei der Überwindung der wirtschaftlichen Rückständigkeit der Minderheiten und ihrer Regionen helfen könne. Tatsächlich liegen die Uiguren durchschnittlich weit hinter den Bildungsstandards der Han-chinesischen Bevölkerung zurück.[99]

Heute sprechen viele chinesische Tadschiken in einer weitgehend uigurisch besiedelten Region des Landes neben ihrem indoeuropäischen Tadschikisch auch Uigurusch, während sie aber nur sehr geringe Kenntnisse in Han-Chinesisch oder anderen Sprachen erwerben.[213][A 11]

Auch viele der den Uiguren als Muslime kulturell nahestehenden Usbeken in China sprechen die uigurische Sprache.[214]

Die realexistierenden Bedingungen der Modernisierung haben zwar den Aufstieg des Chinesischen (Modernes Standardchinesisch, Putonghua) gegenüber den Sprachen der ethnischen Minderheiten begünstigt, und Anfang des 21. Jahrhunderts ergab eine Studie der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften, dass nur noch fünf ethnische Sprachen in den öffentlichen Bereichen wie Regierung, Rechtswesen, Verlagswesen, Medien und Bildung aktiv waren. Doch zählte Uigurisch (zusammen mit Tibetisch, Mongolisch, Koreanisch und Kasachisch) zu diesen noch aktiv verwendeten Sprachen.[128]

Der Wortschatz des modernen Uigurisch ist dabei äußerst reich an Entlehnungen, die Zeugnisse des Kontakts der Uigurisch-Sprecher zu verschiedenen Sprachen und Bevölkerungen der Gegenwart und Vergangenheit sind. In jüngster Zeit geraten im urbanen Sprachgebrauch einerseits Begriffe des Standard-Uigurischen in Vergessenheit und werden oftmals durch chinesische Begriffe ersetzt, andererseits wird in der informellen Sprache oft zwischen Uigurisch und Chinesisch gewechselt. Während aber Entlehnungen aus dem Arabischen, Persischen und Russischen von den Uigurisch-Sprechern als integraler Teil des Vokabulars der uigurischen Sprache betrachtet werden, wurden chinesische phonetische Entlehnungen von konservativen Sprachpflegern angegriffen. Dieser sprachliche Purismus wendet sich also nur gegen Entlehnungen aus dem Chinesischen, das als verbreitete dominante Sprache als einzige Sprache eine Gefahr für das Überleben und die Entwicklung der ethnischen Sprache darstellt.[164]

Sinisierungsdruck auf die uigurische Sprache seit 2017[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Propagierung der Verwendung von guóyǔ (2018)
Ein Schild am Eingang einer Schule in Turpan fordert in vereinfachter chinesischer Schrift (进入校园 请使用国语) dazu auf, mit dem Betreten des Schulgeländes Guoyu zu sprechen
Politische Propaganda in chinesischer und uigurischer Sprache und Schrift an der Wand des Eingangsbereichs zum Ihlas-Supermarkt im Stadtzentrum Kaxgars
Bild rechts: Das obere rote Banner besagt: „Kommunikation beginnt mit Mandarin“, wobei der chinesische Begriff „Putonghua“ (Mandarin) als „gemeinsame Sprache“ (ortaq til) ins Uigurische übersetzt wurde.
Auf dem Whiteboard unten rechts befindet sich eine handschriftliche Liste chinesischer Vokabeln mit uigurischer Übersetzung und der Überschrift: 学国语每日一句 (deutsch etwa: „Lerne Guoyu – einen Satz pro Tag“).

Infolge der ideologischen und politischen Veränderungen zielte die „De-Extremifizierung“ in Xinjiang nicht nur auf gewaltbereiten religiösen „Extremismus“ ab, sondern insgesamt auf die islamische und auf die ethnische Kultur der Uiguren.[215] Im Sommer 2017 erfolgten behördliche Bestimmungen, die Uigurisch als Unterrichtssprache verboten.[100]

Seit 2017 wurde es in der Heimat der Uiguren zunehmend zur Norm für uigurische Staatsangestellte, statt der uigurischen Sprache die chinesische zu benutzen. Entsprechend schrieb der stellvertretende KPCh-Sekretär im Bezirk Qaghaliq in Kaxgar, Memtimin Ubul, am 27. Oktober 2018 öffentlich in einer an über 750.000 Leser verteilten Erklärung, dass jeder Staatsangestellte, der in der Öffentlichkeit Uigurisch spricht, als „Person mit zwei Gesichtern“ einzustufen sei. Diese Anklage hat zur Inhaftierung Hunderter bis möglicherweise Tausender uigurischer Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens geführt, zusätzlich zu der außerordentlich hohen und teilweise auf über eine Million geschätzte Anzahl von Menschen, die in die Internierungslager zur „Transformation durch Erziehung“ geschickt wurden. Ab dieser Erklärung war es in Xinjiang fortan für uigurische Staatsangestellte offiziell unpatriotisch, in uigurischer Sprache zu sprechen oder zu schreiben. Der „Patriotismus“ der Uiguren erforderte nach dieser Denkart die aktive Ablehnung der uigurischen Lebensweise. Dies lief laut Darren Byler hinaus auf die Auslöschung eines einheimischen Systems des Wissens und der grundlegenden, das uigurische Leben ausmachenden Elemente von Sprache, Religion und Kultur.[11] Die staatliche Kampagne zur Sinisierung der uigurischen Kultur schlägt sich auch in visueller Propaganda nieder, wie sie im Jahr 2018 in Xinjiang dokumentiert wurde. Joanne Smith Finley führt dazu als Beispiel ein außen an der Ürümqi-Grundschule Nr. 1 angebrachtes Plakat an, auf dem chinesische und uigurische Kinder aufgefordert wurden, ihre Lehrer zu respektieren und „ihre persönliche Qualität zu verbessern“ und auf dem die Begrüßungsformel (dt. etwa: „Hallo“) in chinesischer Sprache („您好 nin hao“; also in chinesischen Schriftzeichen und in latinisierter Transkription) und in uigurischer Sprache („Yahximu siz“; also in latinisierter Transkription) angegeben wird, die ursprünglich mitangegebene uigurische Schrift (also die uigurisch-modifizierte Form der arabischen Schrift) aber nachträglich hinaus retuschiert wurde.[173][215] Statt der Zweisprachigkeit diente die latinisierte Form der uigurischen Phrase dabei nur noch als notwendiger Zwischenschritt für den Unterricht der Kinder von Mandarin-Chinesisch, die auch nicht mehr als „Han-Sprache“ (chines.: 汉语 hànyǔ; uigur.: Hanzuche), sondern fortan als „Nationalsprache“ (chines.: 国语 guóyǔ; uigur.: dolet tili) bezeichnet wurde.[11][215] Chinesisch sollte nicht mehr länger die Sprache der ethnischen Han-Chinesen sein, sondern auch der umerzogenen patriotischen Uiguren.[11]

Schrift[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Schrift in der Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Uigurische „Runen“-Inschriften
Teil der Šine-Usu-Inschrift auf der 759 errichteten Stele[39]
Sudži-Inschrift[39]
Vorderseite (MIK III 6368 verso) mit Hymnodieszene und -text[216][217] in (alt-)uigurischer Sprache[218][219]
Rückseite (MIK III 6368 recto) mit „Auserwählten“ Manis bei Erfüllung ihrer Schreibaufgaben[216][220]
Der wissenschaftlichen Rekonstruktion nach bilden Vorder- und Rückseite des auf der zweiten deutschen Turfanexpedition unter Albert von Le Coq in Kocho gefundenen Fragments das obere Drittel eines manichäischen Kodexblattes.[221] Nach Peter Zieme (1992) kann der Kodex aufgrund des darin offenbar erwähnten uigurischen Herrschers mit dem Khan-Beinamen Kün Ay Tängritä Kut Bolmish Ulug Kut Ornanmish Alpin Ärdämin El Tutmish Alp Arslan Kutlug Köl Bilgä Tängri Xan auf dessen Regierungszeit (etwa 1007–1024) datiert werden.[222]
Historische Geschäfts-Dokumente in uigurischer Schrift und Sprache
Steuervertrag (mit Siegel)[223]
Vertrag zum Landkauf (ohne Siegel)[223]
Links: Der Text zum Steuervertrag beginnt (in Transkription) mit taqigu jil jitinč aj sekiz j'girmike mn tojinčoq tüšike bansij biz üčegü... (dt. etwa: „Im Jahr des Huhnes, dem siebten Monat, dem achtzehnten Tag, ich, Tojincok, Tüšike und Bansei, wir drei ...“).
Rechts: Der Text zum Landkaufvertrag beginnt mit jont jil törtünč aj sekiz j'girmike biz jeng-ke m(a)usi edgü bir ogul-qa (dt. etwa: „Im Jahr des Pferdes, dem vierten Monat, den achtzehnten Tag, wir, Jeng und Mausi-Edgü, einziger Sohn ...“)[223] – Die eigentlich in vertikalen Zeilen angeordnete Schrift ist hier im Winkel von 90 Grad gegen den Uhrzeigersinn gekippt dargestellt.

Die vor über 1000 Jahren vollzogene Urbanisierung der Uiguren ging Hand in Hand mit einer langen literarischen Tradition.[162]

In der Nachfolgeschaft des Türk-Reiches verwendeten auch die mittelalterlichen Uiguren turkische Runenschrift. Steinstelen mit Inschriften dienen heute als bedeutende Primärquellen. Erhalten sind die Inschriften von Tes (errichtet 750), Tariat (= Terkh; errichtet 752–753), Šine-Usu (= Moyun Čor; errichtet 759), Kara-Balgasun (I und II) und Süüǰi (auch: Suği oder Sudži). Die zu Ehren von Bayan Chor nach seinem Tod errichtete und 1909 von G. J. Ramstedt entdeckte Šine-Usu-Inschrift ist mit 50 Zeilen die umfangreichste.[40] Sie hat die Geschichte der militärischen Siege und Aktivitäten von Bayan Chor aufgezeichnet und zählt zu den bedeutendsten Primärquellen der frühen Geschichte der mittelalterlichen Uiguren.[35]

Die vom 8. bis 11. Jahrhundert erfolgte Annahme der in besonderem Maße schreibkundigen Religion des Manichäismus durch die führende uigurische Elite der Uiguren, die ihre Winterhauptstadt in Kocho nahe der heutigen Turfan-Oase gegründet hatten, brachte die Einführung einer westasiatischen Buchkultur in die Region Turfan mit sich (heute als manichäische Buchkunst Turfans bekannt).[224] Aus den archäologischen Funden des manichäischen Turfan sind mannigfache Sprach-, Schrift- und Schreiberzeugnissen höchster Güte erhalten, die zusammen eine komplexe und hoch entwickelte literarische Kultur belegen.[225] Von der bis 1904 der wissenschaftlichen Welt unbekannten und erst von Friedrich Wilhelm Karl Müller identifizierten manichäischen Schrift[226] wurden Bilderhandschriftfragmente nicht nur in mittelpersischer, parthischer und sogdischer, sondern auch in (alt-)uigurischer Sprache gefunden. Auch die Sogdische Schrift diente sowohl zum Schreiben sogdischer, als auch (alt-)uigurischer Sprache, während von der seltenen „Runen“-Schrift nur Zeugnisse (alt-)uigurischer Texte erhalten sind.[225]

Einer Theorie zufolge hatte das früheste uigurische Khanat die Schrift der schreibkundigen Sogdier übernommen, um eigene Texte zu erstellen.[162][227] Grundlage der uigurischen Schrift wäre demnach die Schrift der Sogdier, die wiederum bedeutende Elemente ihres Alphabets aus dem Aramäischen entlehnt hatten.[227]

Die uigurische Schrift wurde von den Naimanen zum Schreiben ihrer mongolischen Sprache verwendet. Nachdem Dschingis Khan die Naimanen unterworfen hatte, übernahm er die Naimanen-Schrift zum Schreiben der mongolischen Sprache.[227]

Historische Geschäftsdokumente in uigurischer Schrift und Sprache waren zum Beispiel von Carl Gustaf Emil Mannerheim auf dessen Ostturkestan-Reise Anfang des 20. Jahrhunderts gesammelt worden. Schriften dieser Art waren bei den Uiguren des 10. bis 14. Jahrhunderts offenbar weit verbreitet. Das uigurische Volk, das größtenteils in den Städten und Oasen entlang der beiden Gebirgshänge des Tian-Shan lebte, hatte zu diesem Zeitpunkt in Ostturkestan eine recht hochstehende Zivilisation entwickelt und hielt gewöhnlicherweise alle Arten von Geschäftsereignissen und sonstigen Verbindlichkeiten schriftlich fest. Viele solcher Verträge und Kaufverträge wurden in der Nähe der heutigen Stadt Turpan gefunden. Der russische Gelehrte Wilhelm Radloff hatte eine Sammlung solcher Dokumente angelegt und übersetzt, die nach seinem Tod vervollständigt und 1928 in Leningrad veröffentlicht wurde.[223]

Etwa in der Zeit vom 13. bis zum 15. Jahrhundert, als der Islam in der Region seinen Einfluss verfestigte, kam es zur Aufgabe der uigurischen Schriftzeichen, die durch arabische Buchstaben ersetzt wurden.[228]

Zu den in der Zeitspanne vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart verwendeten Schriften der (Alten und modernen) Uiguren zählen unter anderem:[229]

  • die Brahmi-Schrift[229]
  • die Orchon-Runen (auch: „uigurische Runen“)[229]
  • die mittelalterliche uigurische Schrift[229]
  • die uigurische, sogdische und manichaeische Schrift[229]
  • das auf der arabisch-persischen Schrift basierende uigurische Tschagatai-Schiftsystem[229]
  • das auf der arabischen Schrift basierende moderne uigurische Schriftsystem (heute gültig)[229]
  • das auf der lateinischen Schrift basierende moderne uigurische Schriftsystem[229]
  • das auf der kyrillischen Schrift basierende moderne uigurische Schriftsystem[3]
Arabisch-uigurische Schrift
500-Yuan-Banknote von 1951 mit dem Schriftzug „جۇڭگو خەلق بانكىسى“ in uigurischer Sprache für „Chinesische Volksbank
Großes Wörterbuch Chinesisch-Uigurisch mit dem Titel in Uigurisch („خەنزۇچە - ئۇيغۇرچە چوڭ لۇغەت“) und Chinesisch („汉维大词典“) (Frankfurter Buchmesse, 2009)

Schrift in der Gegenwart[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Heute verwenden die Uiguren in den verschiedenen Staaten ihres Siedlungsgebietes unterschiedliche Schriften wie Arabisch, Kyrillisch oder Lateinisch zur Niederschrift der Sprache.[162]

Als die Neu-Uigurische Schriftsprache ab 1921 in Russisch-Turkestan entstand, geschah dies zunächst unter Verwendung der arabischen Schrift,[3] die sich für die Transkription von Wörtern aus Turksprachen schlecht eignet.[230]

In der Zeit zwischen den 1930er und den 1980er Jahren wurde das für das Neu-Uigurische verwendete Schriftsystem viermal reformiert oder vollständig ersetzt.[231] Während für das Neu-Uigurische in der Sowjetunion auf eine 1925 erfolgte Reform der arabischen Schrift im Jahr 1930 der Übergang zur lateinischen und schließlich 1946/1947 zur kyrillischen Schrift erfolgte, wurde in China letztendlich die Verwendung einer reformierten arabischen Schrift durchgesetzt.[3]

Mit den in den Jahren 1937 und 1954 erfolgten Reformen konnte die Eignung der arabischen Schrift für das Neu-Uigurische erhöht werden. Gleichzeitig bewirkten die Reformen der in China verwendeten arabischen Schrift für das Neu-Uigurische eine Absetzung von den anderen auf der arabischen Schrift fußenden Schriften Zentralasiens und im Mittleren Osten, womit das „Uigurisch“-Sein als primäre Identität der nicht-nomadischen Muslime Xinjiangs gegenüber dem „Turkisch“-Sein etabliert wurde.[231]

Um dem Lesen islamischer Texte entgegenzuwirken und stattdessen das Lesen wissenschaftlicher und pädagogischer Texte aus der Sowjetunion zu fördern, folgten die chinesischen Behörden Xinjiangs im Jahr 1956 zunächst dem Beispiel der Sowjetunion, die für die Sprachen der auf ihrem Territorium lebenden Turkvölker (neben Uigurisch also auch Usbekisch, Kasachisch und Kirgisisch) Schriftsysteme eingeführt hatte, die auf der kyrillischen Schrift beruhten.[232]

1960 reagierte die chinesische Führung dann aber auf die inzwischen erfolgte Abkühlung der chinesisch-sowjetischen Beziehungen mit der Abwendung von den kyrillischen Schriften und der Einführung neuer Schriftsysteme für in Xinjiang lebende Turkvölker. Obwohl diese Orthographien auf dem lateinischen Alphabet (auch: römisches Alphabet) unter Zuhilfenahme einiger Sonderzeichen beruhten, stellten sie eher eine Pinyinisierung als eine Romanisierung dar, da sie für die Zuordnungen von Buchstaben zu Lauten statt der internationalen Standards für die Romanisierung von Turksprachen den nationalen Standard des Hanyu Pinyin (offizielle Romanisierung des Hochchinesischen in der VR China) heranzogen.[232] Die kommunistische Führung in China verfolgte mit der Durchsetzung der Verwendung einer neuen lateinischen Schrift das Ziel, die kulturellen Unterschiede nach der Formalisierung der uigurischen Sprache sowohl zu berücksichtigen als auch zu kontrollieren.[1] Die Reform zielte darauf ab, den Kontakt der Uiguren in China zu den Turkvölkern in der Sowjetunion zu stören und durch die Erleichterung der Einführung chinesischen Vokabulars in Turksprachen die „Fusion und Assimilation“ von Minderheiten in die chinesische Mehrheitsgesellschaft voranzutreiben.[232] Ein in den 1970er Jahren unternommener Versuch zur Einführung der lateinischen Schrift wurde jedoch 1980 wieder aufgegeben.[3]

In der auf die Ära der Kulturrevolution folgenden Reformphase führte China 1984 wieder offiziell eine leicht von der arabischen Schrift abgewandelte Schrift für die Uiguren ein, verbreitete sie mit hoher Wirksamkeit und nannte sie kona yäziq („alte Schrift“), während die zuvor verwendete pinyinisierte lateinische Schrift die Bezeichnung yengi yäziq („neue Schrift“) erhielt.[232] Im heutigen China verwenden die meisten Minderheiten die chinesischen Schriftzeichen zum Schreiben. Zu den wenigen Ausnahmen gehören die Uiguren, die wie die ebenfalls turksprachigen Minderheiten der Kasachen und Kirgisen das Arabische Alphabet verwenden. Wie die gesprochenen und geschriebenen Sprachen der anderen offiziell anerkannten Minderheiten ist auch das Uigurische in arabischer Schrift in China in den Bereichen Recht und Gesetz, Verwaltung, Bildung, politisches und soziales Leben und in anderen Bereichen weit verbreitet. So wird etwa der Name „Chinesische Volksbank“ auf jeder Banknote, von 100 Yuan RMB herab bis 1 Jiao, auch in der uigurischen Form geschrieben.[128]

Während der Kulturrevolution war die modifizierte arabische Schrift in Xinjiang staatlich verboten. Im Zuge der Kampagnen zur „De-Extremifizierung“ seit 2017[233] kam es in Xinjiang erneut zu einer Rückdrängung der uigurischen Schrift in verschiedenen Bereichen durch den chinesischen Staat.[173]

Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als Schriftbeispiel für verschiedene moderne uigurische Schriftsysteme sowie in deutscher Fassung[234]
Arabisches Alphabet (UEY = Uyghur Ereb Yëziqi):   ھەممە ئادەم تۇغۇلۇشىدىنلا ئەركىن، ئىززەت۔ھۆرمەت ۋە ھوقۇقتا باب۔باراۋەر بولۇپ تۇغۇلغان. ئۇلار ئەقىلگە ۋە ۋىجدانغا ئىگە ھەمدە بىر۔بىرىگە قېرىنداشلىق مۇناسىۋىتىگە خاس روھ بىلەن مۇئامىلە قىلىشى كېرەك.
Kyrillisches Alphabet (USY = Uyghur Siril Yëziqi):   Һәммә адәм туғулушидинла әркин, иззәт-һөрмәт вә һоқуқта баббаравәр болуп туғулған. Улар әқилгә вә виҗданға игә һәмдә бир-биригә қериндашлиқ мунасивитигә хас роһ билән муамилә қилиши керәк.
Pinyin-basiertes Alphabet (UYY = Uyghur Yëngi Yëziqi):   Ⱨəmmə adəm tuƣuluxidinla ərkin, izzət-ⱨɵrmət wə ⱨoⱪuⱪta babbarawər bolup tuƣulƣan. Ular əⱪilgə wə wijdanƣa igə ⱨəmdə bir-birigə ⱪerindaxliⱪ munasiwitigə has roⱨ bilən mu’amilə ⱪilixi kerək.
Lateinisches Alphabet (ULY = Uyghur Latin Yëziqi):   Hemme adem tughulushidinla erkin, izzet-hörmet we hoquqta babbarawer bolup tughulghan. Ular eqilge we wijdan'gha ige hemde bir-birige qërindashliq munasiwitige xas roh bilen muamile qilishi kërek.
Deutsch:   Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.

Religion und Religionsrecht[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Buddhistische Malereien in den Höhlen von Bäzäklik nahe Turpan
Blick auf die Eingänge der Tausend-Buddha-Höhlen von Bäzäklik, einem Komplex von buddhistischen Höhlentempeln, rund 10 Kilometer nördlich von Chocho und rund 20 Kilometer östlich von Turpan gelegen.
Ein zentralasiatischer Mönch mit europider Erscheinung als Lehrer eines ostasiatischen Mönches (Fresko aus dem 9. Jahrhundert n. Chr.).
Denkmal des Philologen Muhammad Al Kashgari in Opal bei Kaxgar (2015)
Im Dorf befindet sich mit dem Mähmud Qäshqäri mazâr seine Grabstätte, eine historische Pilgerstätte der Uiguren[235][236]
Weltkarte aus dem „Divan-i Lughat Turk“ mit beschrifteten Ländern und Städten sowie mit Bergen (rot), Sand (gelb), Flüssen (blau), Seen und Ozeanen (grün)[237]
Obwohl das im 11. Jahrhundert (1072–1074) abgeschlossene Werk „Divan-i Lughat Turk“ („Kompendium der Sprachen der Türken“) geradezu als der große Beitrag zur Entwicklung der muslimischen Kultur in der Region angesehen wird, wurde die Konversion zum Islam in der Region nicht vor dem 16. Jahrhundert vollendet.[113]
Sugong- oder Emin-Minarett und -Moschee in Turpan
Das nachträglich restaurierte Bauwerk mit Minarett und Moschee bildet eine Art Minarett-Moschee-Komplex.[238]
Das außen mit 16 Mustern verzierte, sich stark konisch verjüngende Lehmziegel-Minarett ist mit 44 m Höhe das höchste Minarett Chinas[238]
Der Islam erreichte Turpan nach dem Sturz der Yuan-Dynastie. In den fast 1.000 Jahren zuvor hatten Buddhisten, Manichäer, Sogdier, Uiguren und Chinesen im weiteren Gebiet dieser Oase ihre Einflüsse auf Architektur und Malerei ausgeübt. Die verschiedenen Besatzer haben jeweils ihre Benennungen hinterlassen. Der im Entwurf einem uigurischen Meister namens Ibrahim zugeschriebene Turm wurde vom örtlichen Führer Amin Khoja finanziert (daher der chinesische Name „Amin-“ oder „Emin-Minarett“) und 1778, ein Jahr nach seinem Tod, von dessen Sohn Sugong (daher der uigurische Name „Sugongta“, dt. etwa: „Turm von Sugong“) fertiggestellt. Das heutige Minarett wurde zunächst als Gedächtnis-Pagode für den Vater genutzt.[238]
Islamisches und buddhistisches Nebeneinander bei Kultstätten
Islamisches Grab mit Radysmbol (Turfan)[239]
Vihara und islamisches Heiligtum (Kuqa)[240]
Islamisches Heiligtum (Kuqa)[240]
links: Das islamische Grab aus dem 19. Jahrhundert ist ein Beleg für das Auftreten des buddhistischen Radsymbols bei modernen islamischen Kultbauten[239]
Mitte und rechts: Das islamische Heiligtum miṅg tän ātám („Vater der tausend Körper“) bei Kuqa steht direkt neben einem großen Vihara. In ähnlicher Weise stehen auch andere islamische Heiligtümer manchmal auf oder neben Stätten, wo sich früher buddhistische Tempel oder Kultorte befanden oder noch befinden.[240]
Islam in Xinjiang (2010)
Verbreitung der Muslime in China im Jahr 2010 nach Provinzen[241]
Betende Uiguren in der Heytgah-Moschee zum Eid al-Fitr (2010)
Morgengebet vor der Heytgah-Moschee zum Eid al-Fitr (2010)
Gläubige etwa um 8 Uhr zum Abschluss des Ramadan am 10. September 2010

Die Uiguren gehören einer sunnitischen Islamauslegung an, die stark von den Sufi-Traditionen beeinflusst ist, insbesondere von Praktiken der Schrein-Pilgerfahrt und Formen der rituellen sama’-Versammlung.[160] Die muslimische Identität stellt heute ein zentrales Element der uigurischen Ethnizität dar.[242]

Die Uiguren und ihre Vorfahren einerseits[113] und die Region Ostturkestan im Zentrum der „Seidenstraße“ mit ihrem lebhaften Verkehr religiöser Ideen in früheren Jahrhunderten andererseits[242] weisen eine lange und vielfältige religiöse Tradition auf.[61][113] Vor der Zeit intensiver kultureller Kontakte scheinen animistische Vorstellungen und Ahnenkult-Formen vorherrschende religiöse Elemente in der Region gewesen zu sein.[242] Die Vorfahren der Uiguren waren Teil eines Volkes, das Schamanismus und frühe zentralasiatische Religionen annahm. Neben dem Schamanismus gehörte auch der Zoroastrismus zu ihren frühesten Religionen.[113] Die Uiguren kamen dabei unter den benachbarten zentralasiatischen Turkvölkern (wie Kasachen und Kirgisen) am stärksten mit den Weltreligionen in Kontakt, namentlich seit dem frühen Mittelalter neben dem Zoroastrismus auch mit dem Manichäismus (jedoch nicht vor dem Ende des Zweiten Östlichen Türk-Kaganats[243]), dem nestorianischen Christentum und dem aus südlicher Richtung vordringenden Buddhismus,[244] wobei den beiden letztgenannten bedeutende Erfolge gelungen waren, bevor der Islam an Einfluss gewann.[113] Der Islam erreichte im 8.[113] bis 10. Jahrhundert[244] Zentralasien.[244] Der Islam konnte schließlich im 15.[61][245] bis 16. Jahrhundert[113][244] den Buddhismus verdrängen und wurde seitdem in seiner sunnitischen Form nach vorwiegend hanafitische Rechtsschule die beherrschende Religion.[244] Der Süden Xinjiangs war dabei bereits etwa seit dem 11. Jahrhundert islamisch geprägt,[242][245] wohingegen der Osten Xinjiangs – wie etwa die Region Turpan – im 15. Jahrhundert islamisiert wurde und damit relativ spät.[245] In den auf das 11. Jahrhundert folgenden Jahrhunderten wurde der Islam hauptsächlich durch mystische Orden und Sufi-Netzwerke wie den Khwājagān und ihrem sunnitisch orientierten und in der Regel eine strikte Einhaltung der Scharia fördernden Ableger der Naqschbandīya verbreitet.[242]

Die Uiguren gehören zwar – wie andere zentralasiatische Turkvölker – traditionell der hanafitische Rechtsschule an, sind sich allerdings in den meisten Fällen ihrer Zugehörigkeit zu dieser Rechtsschule nicht bewusst. Selbst das Schisma zwischen Sunniten und Schiiten vergegenwärtigen sie sich meist nicht. Da die Islamisierung der Region überwiegend durch Sufi-Proselytismus erreicht wurde, kam es dort von Beginn an zu keiner scharfen Gegenüberstellung zwischen Sunnitismus und Schiismus.[242] Während von den 55 anerkannten Minderheiten Chinas lediglich etwa 50 % für einen von der Han-Kultur abweichenden Glauben eintreten, gelten die Uiguren als das vorderst zu nennende Gegenbeispiel, indem sie zu einem weitaus höheren Anteil religiös gläubig, also überwiegend muslimisch, sind.[64] Die Ausübung islamischer Glaubenspraktiken ist ein Element ihres zentralasiatischen Erbes.[165]

Der vorislamische Glaube beeinflusst jedoch weiterhin die uigurische Islampraxis, insbesondere unter den Sufis im südlichen Xinjiang. Viele städtische Uiguren identifizieren sich heute als „Sunniten“, womit sie „anders als Sufis“ meinen.[165] Das Fortbestehen von Vorstellungen unter den heutigen Einwohnern der Region, die dem Animismus und Ahnenkult der frühen Zeit ähneln, veranlasste Gelehrten zu der Theorie einer archaischen „schamanischen Schicht“ unter der islamischen Oberfläche.[242] Zu den vorislamischen Bräuchen der Uiguren gehört auch das Nowruz-Fest, das sich damit unter den von den Uiguren gefeierten Festtagen als nicht-islamischer Feiertag absetzt. Nowruz ist ein altertümlicher Feiertag Zentralasiens und wird traditionell mit Zoroaster in Verbindung gebracht, der eine vor-monotheistische Philosophie der Wissenschaft und der Naturreligion verkörpert. Für die vielen zentralasiatischen Völker, die dieser Tradition folgen, beginnt das Jahr mit der Frühjahrstagundnachtgleiche. Die Verbindungen zum vorislamischen Glauben wurzeln bei den Uiguren in der Volkskultur, und eine Studie in der uigurischen Diaspora in der Türkei, die mit in Xinjiang geborenen und aufgewachsenen Uiguren gemacht wurde, weist darauf hin, dass der vorislamische und traditionelle Volksfeiertag Nowruz besonders in den weniger gebildeten Schichten verteidigt wird.[113] Am 23. Februar 2010 wurde dem Tag der Tagundnachtgleiche (21. März jeden Jahres) von den UN der Status als „Internationaler Nowruz-Tag“ (mit den je nach Land variierenden Sprech- und Schreibweisen Nowruz, Novruz, Navruz, Nooruz, Nevruz, Nauryz mit der Bedeutung „Neu-Tag“) verliehen,[246][247] was auch Erwähnung in chinesischen Staatsmedien fand, wo Nowruz als traditionell-uigurischer und nicht exklusiv-uigurischer Festtag vorgestellt wurde.[248]

In China sind die Minderheiten allgemein sowohl im Glauben als auch in der Praxis religiöser als die Han-Chinesen. Neben den Tibetern zeichnen sich die Uiguren in China durch die starke Rolle aus, die die Religion traditionell in ihren Gesellschaften spielte und weiterhin spielt. Während bei den Han-Chinesen die staatsorientierte Ideologie des Konfuzianismus religiöse Körperschaften immer daran hinderte und weiterhin hindert, Einfluss oder gar Kontrolle auf die formelle Staatsführung auszuüben, ist es bei einigen Minderheiten zu starkem religiösen Einfluss auf die staatliche Politik gekommen. So durch den tibetischen Dalai Lama als früheres Oberhaupt sowohl der Religion als auch der Regierung, aber auch durch den islamischen Klerus, der sowohl sozial als auch politisch hohe Bedeutung für die muslimischen ethnischen Gruppen hatte.[128] Unter der modernen chinesischen Herrschaft war das Gebiet des ehemaligen Osstturkistans dann nie religiös frei. Seit Regierungsübernahme durch die Volksrepublik China in der Region Xinjiang im Jahr 1949 verfolgte die chinesische Führung eine Politik der religiösen Repression, die auf die vollständige Assimilation der Uiguren an die Han-chinesischen Einwanderer abzielte.[249] In der Hochphase der maoistischen Ära in den 1950er und 1960er Jahren wurden alle mit dem Islam verbundenen uigurischen Traditionen als konterrevolutionär bezeichnet und sämtliche traditionellen Feiertage – sowohl jene der Han-Chinesen als auch der Uiguren, ausgesetzt.[195] Nach dem Ende der Kulturrevolution und dem Tod Mao Zedongs im Jahr 1976 änderte sich die Situation radikal und es kam im Jahrzehnt nach 1979 zu einem erheblichen Wiederaufleben muslimischer Gemeinschaften und islamischer religiöser Aktivitäten in China. Uiguren und Hui aus Nordwestchina, die ins innere China reisten, regierten mit Empörung, als sie nach der Kulturrevolution erkennen mussten, dass Moscheen in Gebieten abgerissen worden waren, in denen traditionelle chinesische buddhistische Tempel verschont geblieben worden waren.[250]

Für die gesamte Region Xinjiang mit ihren verschiedenen Ethnien ist der Islam die in außerordentlichem Maße vorherrschende Religion. Nach offiziellen Angaben lebten im Jahr 2000 8,1 Millionen religiöse Menschen in Xinjiang, in fast allen Fällen Muslime, und es waren 20.000 Moscheen und rund 29.000 Angehörige des Klerus verzeichnet. Dabei handelte es sich um offiziell gesponserte und vom Staat finanziell unterhaltene Moscheen, sowie teilweise um staatlich unterstützte Imame. Die einst zahlreichen Anti-Regierungs-Moscheen waren dagegen seit der 1996 gestarteten „Kampagne des harten Schlags“ stark geschwächt worden. Im Süden Xinjiangs ist der Islam allerdings weitaus stärker als im Norden der Region. Ein Grund liegt darin, dass der Süden uigurisches Gebiet ist, während der Norden durch Kasachen besiedelt wird, die als nachlässiger in der Ausübung islamischer Praktiken gelten als Uiguren. Zwar existierten auch kasachische Moscheen, doch lebten viele Kasachen weiterhin nomadisch und besuchten Moscheen daher wohl auch mit geringerer Wahrscheinlichkeit.[80]

In den von wirtschaftlicher Entwicklung und Urbanisierung geprägten 1990er Jahren kam es zu einer Wiederbelebung des Islam und uigurische Dorfbewohner begannen, neue Formen der Gemeinschaft aufzubauen, die oft einen länderübergreifend waren und mit technologisch Mitteln herbeigeführt waren. Um den Anstieg der religiösen Frömmigkeit und den engeren Verbindungen zwischen Uiguren und dem Nahen Osten entgegenzuwirken, rief der chinesische Staat eine Reihe zunehmend repressiver und gewalttätiger „Antiextremismus-Kampagnen“ ins Leben, in denen übliche religiöse Ausdrucksformen schrittweise verboten wurden, darunter das Lesen religiöser Bücher (auch des Korans), religiöse Kleidungsstile, das Ramadan-Fasten, tägliche Gebete und der Moscheebesuch.[160] Obwohl die Uiguren überwiegend einem traditionellen, synkretistischen Volksislam folgten,[251] der teilweise auch als liberaler und weniger extremistisch oder weniger orthodox beschrieben werden kann,[252] unterlagen sie in China nach den sukzessiven Einschränkungen ihrer Religionsfreiheit seit den späten 1990er Jahren und vor allem seit 2001 strikteren Bestimmungen als andere Muslime.[251] Seit den 1990er Jahren hat in Xinjiang die staatliche Kontrolle über die Religion den Dialog mit ihr offenbar zunehmend ersetzt. Diese Kontrolle wurde so überzogen und die damit verbundenen Strafen so ungerecht oder übertrieben, dass sie auch im kontraproduktiven Sinne gewirkt und eine Zunahme von Gewalttaten gefördert haben kann.[115] Diese Politik löste eine Reihe von gewalttätigen Vorfällen aus, die die chinesischen Staatsmedien schnell als extremistischen Terror deklarierten.[160] Nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 hatte die chinesische Führung unmissverständlich darauf bestanden, dass es sich bei den uigurischen Separatisten um Terroristen handle, die vom islamischen Fundamentalismus inspiriert seien. Westliche Experten bestritten dagegen schon im Jahr 2004, dass die Quelle der Konfrontation mit den Han-Chinesen oder dem chinesischen Staat im Islam zu suchen sei, räumten jedoch ein, dass der Islam vermutlich für die Zukunft eine wachsende Rolle in der nationalistisch uigurischen Bewegung spielen werde.[62][253]

Schriftreligion[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Mehrheit der Uiguren gehört heute dem sunnitischen Islam hanafitischer Rechtsschule an.[61][81] Die Bekehrung des uigurischen Herrschers in Kaxgar im 10. Jahrhundert bildete den Ursprung des Islams nicht nur für die Uiguren, sondern für alle Turkvölker. Obwohl die Intensität der Bindung an den Islam unter den Uiguren unterschiedlich ist, bleibt sie im Allgemeinen und vor allem im südlichen Xinjiang stärker als bei den Hui-Chinesen.[128]

Das Festhalten der Uiguren an den Grundsätzen des sunnitischen Islam kann als ein zentrales Merkmal ihrer Identität in der heutigen Welt angesehen werden. Der religiöse Glaube hat Einfluss auf die Ernährung und Auswahl der Nahrungsmittel der Uiguren genommen. In den meisten Fleischgerichten meiden sie Schweinefleisch und ziehen stattdessen Lammfleisch vor. Auch Märchen, Musik und Tanz der Uiguren wurden von ihrer Religion beeinflusst.[162]

Die Form der Islampraxis der meisten Uiguren wird als im weltweiten Vergleich verhältnismäßig liberal beschrieben. Nur wenige Frauen bedecken sich demnach mit einem Schleier, wenngleich Frauen und Männer außerhalb des Heims körperlichen Kontakt vermeiden.[162] Andererseits beschreiben Wissenschaftler die uigurischen Immigranten in der Türkei der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als strikt sunnitisch und sich offenbar schon allein durch die strengere Geschlechtertrennung von den Türken abhebend.[73][129]

„Volksrecht“ und Religionsrecht[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Bei den muslimischen Turkvölkern haben islamische Rechtsinstitutionen eine lange Geschichte und konnten sich noch bis in die sozialistische Zeit halten. Die Qing-Dynastie herrschte in indirekter Weise, die solchen Institutionen ein gewisses Maß an politischer Autonomie ermöglichten. In den Oasenstädten rund um die Taklamakan-Wüste in Xinjiang setzten die Qadis eine Kombination aus Scharia und uigurischem Gewohnheitsrecht vor qadihana (uigurisch für: „Haus des Qadi“) genannten Gerichten um. Im Jahr 1874 hob das Qing-Gericht die Anwendung des islamischen Rechts bei der Behandlung von Strafsachen auf, ließ jedoch weiterhin das islamische Recht und die lokale Sitte für die Behandlung nicht-krimineller Angelegenheiten durch Qadis zu. Bis in die frühen 1950er Jahre beglaubigten Qadis noch häufig juristische Dokumente, obwohl chinesische Verwaltungsbeamte zunehmend versuchten, solche Rechtsformen zu standardisieren. In uigurischen Fabeln sind oft Qadis zu sehen, manchmal in Form des Volksweisen Afanti, was die starke Stellung der Institution des Qadi im uigurischen kollektiven Bewusstsein demonstriert. Die muslimischen Turkvolk-Gemeinschaften – so die Uiguren oder auch die Salaren – unterhielten islamische Rechtsinstitutionen weitaus länger aufrecht als chinesische Muslime in der Provinz Gansu. Die lockere geografische Verteilung und die geringere Bevölkerungsdichte ihrer Gemeinden machten die Hui-Chinesen dort anfälliger für den Druck der Hanifizierung als es bei den Uiguren in ihrem konzentrierten Siedlungsgebiet in Xinjiang der Fall war.[254]

Wie der „Volksglaube“ (minjian xinyang) ist auch das „Volksrecht“, einschließlich des Religionsrechts, nicht über formelles Recht geregelt. Das Religionsrecht einiger ethnischer Gruppen, die transnationale Verbindungen haben und nicht unbedingt an nationaler Gerichtsbarkeit festhalten, erwies sich für die sozialistische Herrschaft als störend. Zu diesen ethnischen Gruppen gehörten an erster Stelle die Uiguren und Tibeter und in geringerem Maße die Mongolen und Hui.[255]

Volksglaube oder „heterodoxer“ Islam – Geisterglaube, Heiligenverehrung, rituelle Heilung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Geisterpuppen und Speise- und Trankopfer (Kaxgar, Anfang 20. Jh.)
Geisterpuppe (ǧinn)[256]
Fuß eines Grabes mit dort aufgestellten „ǧinn“ und Speisenäpfen[256]
Bei der Bevölkerung in Kaxgar wurde im Rahmen der Deutschen Turfanexpeditionen der Brauch dokumentiert, dass an vielen muslimischen Gräbern eine oder mehrere Puppen (arab. Plural: ǧinn) aufgestellt wurden. Diese Geisterpuppen bestanden aus einem Stab (Ästchen), um den Lumpen gewickelt wurden; Ein Gesicht wurde grob durch einige Striche angedeutet. Man brachte ihnen, besonders zur Festzeit, Speisen und Tränke auf Tellern und in Näpfen – gedeutet als Versöhnungsopfer –, die später nicht wieder benutzt werden durften.[256]
Tumar-Amulette in Turkestan zum Schutz gegen Geister
Im Haar getragenes Amulett (sāč tūmārī) eines jungen Mädchens (Qara Chōdscha, Anfang 20. Jh.)[256]
Diese Briefmarke aus Usbekistan aus dem Jahr 2004 zeigt ein Tumor-Amulett aus Samarkand (19. Jh.) als Motiv
Zum Schutz gegen die ǧinn – die als stets übelwollend erachtet wurden – band man in Ostturkestan Amulette (arab. tūmār, dt. etwa „Rolle“ für eine beschriebene Rolle Papier oder Pergament) an Haare oder Körperglieder von Menschen und Tieren. Die meisten Amulette bestanden aus kleinen Dosen oder Beuteln, in denen Koranverse oder ähnlich beschriebene Rollen oder Blätter aufbewahrt wurden.[256]
Bild links: Dieses auf den Deutschen Turfanexpeditionen dokumentierte sāč tūmārī besteht aus einer dreieckigen und an allen Seiten zugenähten Tasche aus farbigem Samt, mit von Korallen und Perlen besetzten Schnüren. In der Tasche befindet sich ein beschriebenes Blättchen Papier. Die gleichen Amulette band man auch an den Schwanz wertvoller Pferde.[256]
Bild rechts: In Zentralasien sollte Schmuck mit sakraler Funktion wie Tumar-Amulette vor allem die Unversehrtheit der Mädchen gewährleisten, als zukünftige Mütter und junge Frauen während ihrer fruchtbaren Zeit. Neben Schläfe und vorderen Teilen des Gesichts sowie Hals und Handgelenken wurden auch verletzlichste Stellen des Körpers wie Brust, Achselregion und Bauch geschmückt und somit geschützt. Edle Metalle und edle Steine besaßen ebenso einen codierten Schutzwert wie etwa die Form und die Motive der Verzierungen. So besaß Silber nach altem Volksglauben reinigende und magische Eigenschaften, während Korallen Reichtum und Überfluss anzogen. Daher fungierte Schmuck als Amulett und begleitete Frauen in dieser Form von der Geburt bis zum Tod. Amulette besaßen oft ein Gehäuse aus Silber (seltener Gold, mit dem das Amulett selbst bezahlt wurde) und enthielten ein auf Papier geschriebenes Gebet, das die schützenden Eigenschaften des Amuletts weiter verstärken sollte.[257]

Die Formen der Islamausübung bei den Uiguren wie allgemein in Zentralasien gelten als typische Beispiele für einen Islam, der in der Wissenschaft – wie in der sowjetischen – teilweise als „heterodox“ und teilweise mit anderen Begriffen wie „traditionell“, „Volksglaube“ oder „inoffiziell“ bezeichnet wurde, um ihn von einem „orthodoxen“, „reinen“ oder „offiziellen“ Islam abzugrenzen, der auf der Auslegung des Korans und der Hadithe beruhe.[242] Die offizielle chinesische Wissenschaft machte einen Unterschied zwischen einigen Erscheinungsformen lokaler Bräuche (örp-adät) und religiösen Bräuchen. Die lokalen Bräuche wurden von der chinesischen Wissenschaft als tolerabel oder sogar positiv eingeordnet, da sie zur Bildung einer bunten ethnischen Gruppe in der VR China beitragen sollten. Viele religiöse Bräuche verurteilte die chinesische Wissenschaft hingegen als rückständig und an das Erbe des Feudalismus gekoppelt, das es im Kommunismus zu überwinden gelte.[258]

Zu den vielen kulturellen Elementen, die die alten und die modernen Uiguren wie andere turkstämmige Gruppen Zentralasiens mit den Mongolen gemein haben, bei denen der Schamanismus in der Geschichte eine Blütezeit erlebt hatte, zählen auch Elemente alter schamanistischer Vorstellungen und Praktiken, wenngleich solche Ursprünge in der islamischen Kultur nicht immer explizit als solche anerkannt werden.[259] Wie der kasachische, kirgisische, usbekische und tadschikische „Schamanismus“ weist auch die kulturelle Gruppe der uigurischen „Schamanen“ andererseits eine starke Überlagerung mit dem Islam auf, der ihre Praktiken beeinflusst hat – im Gegensatz zu den mongolischen und tuwinischen Gruppen, bei denen der Buddhismus als Religion dominiert und seit dem 16. Jahrhundert mit dem „Schamanismus“ koexistierte.[260] Besser als von „Schamanismus“ ist im Fall der Uiguren von einer Reihe tief in den lokalen Volksglauben integrierter Heilmethoden zu sprechen.[259] Tatsächlich hält die uigurische Gesellschaft noch in weiten Teilen an traditionellen Praktiken wie Heiligenkult und ritueller Heilung fest, auch wenn diese in der uigurischen Gesellschaft zugleich sehr umstritten sind.[242] Die Heilungszeremonien und damit verbundene Rituale haben zumindest einen Teil ihrer Bedeutung beibehalten und genießen einerseits wie andere „traditionelle“ Volkspraktiken das Ansehen eines integralen Teils des Islam und der muslimischen Lebensweise, werden aber gleichzeitig sowohl von Vertretern der islamischen Schrifttradition (als „ketzerisch“), als auch vom sozialistischen Staat und vielen uigurischen Intellektuellen (als „rückständig“) abgelehnt.[259] Diese Heilpraktiken beruhen auf dem Glauben an die Existenz verschiedener Arten von Geistern, die wohlwollend oder schadenstiftend wirken können. Nach uigurischer Vorstellung können schadenstiftende Geister Krankheiten herbeiführen, während wohlwollende Geister vom Heiler während der Heilzeremonie zur Hilfe herbeigerufen werden können.[259]

Die Verehrung der Toten steht bereits seit langem im Mittelpunkt der volksreligiösen Praktiken der Turki-Bevölkerung oder Uiguren. Der Ahnenkult der Uiguren mit seinen Erscheinungsformen ist eng verwandt mit ähnlichen Praktiken unter den türkisch und iranisch sprechenden Völkern des muslimischen Zentralasiens und unterscheidet sich stark von den Ahnenkult-Bräuchen unter Han-Chinesen. Unter den Uiguren ist die Vorstellung weit verbreitet, dass das Wohlergehen der Lebenden eng mit dem Wohlergehen der Toten verbunden ist und dass die Toten die Lebenden beeinflussen können.[258] Dem besonderen Umgang mit dem Tod liegt in der uigurischen Gesellschaft ein genereller Glaube an die Existenz unsichtbarer, aber ständig anwesender „Geister“ (roh, Pl. rohlar) zugrunde. Dabei sind nach uigurischer Vorstellung sowohl Geister verstorbener Menschen allgegenwärtig und von alltäglicher Relevanz, als auch nichtmenschliche Geister (djin/ǧin, Pl. djinlar/ǧinlar).[81] Dieser Glaube an die Existenz und das Vorhandensein verschiedener Arten spiritueller Wesen, die gegenwärtig sind und in das Leben der Menschen eingreifen, spielt unter Uiguren eine wichtige Rolle. Eine ganze Reihe religiöser Praktiken beruht auf solchen Vorstellungen und besteht darin, diese Geister auf unterschiedliche Weise als Gegner, Partner oder Fürsprecher für Gott (alla oder xuda) anzusprechen. Es können dabei drei Bereiche von Praktiken des Geisterglaubens unterschieden werden, die eng ineinander greifen:[242]

1. – Häusliche Riten für die Geister verstorbener Verwandter und enger Familienangehöriger[242][259][260]

Als „häuslicher Kult“ (nicht: „schamanischer“) kann ein zentraler Bereich des Geisterglaubens der Uiguren bezeichnet werden, in dessen Zentrum die Geister toter Verwandter und enger Bekannter stehen, wie etwa Eltern, Großeltern und anderer Personen, die man zu ihren Lebzeiten kannte. Bei den sich mit dem Bereich des Todes beschäftigenden sowie anderen offiziellen und inoffiziellen islamischen Ritualen handelt es sich weniger um einen wirklichen Ahnenkult, als vielmehr um die Bewahrung bestimmter Aspekte der Totenvererhrung. Vorrangig sollen sie das Wohlwollen der Toten sicherstellen, damit deren Hilfe für das Wohlergehen und den Wohlstand der Lebenden gewonnen werden kann. Zentrale Bestandteile dieser Kultform sind die „Speisung“ der Geister mit dem Duft von Weihrauch, dem Geruch von heißem Öl bei der Zubereitung zeremonieller Kuchen und den damit in Verbindung stehenden Gebeten. Nach uigurischer Vorstellung helfen Geister, deren Erinnerung man derart mithilfe von Gebeten und Opfergaben zelebriert, ihrer Familie, während vernachlässigte Geister der Familie Unglück bereiten können.[259]

2. – Riten an den Gräbern muslimischer Heiliger (ävliya)[242]

Menschliche Geister – verstanden als „Seelen“ verstorbener Menschen – nehmen einen wichtigen Platz im spirituellen Denken der Uiguren ein. Wie allgemein im zentralasiatischen Islam spielen Heiligengräber als Pilgerorte (mazar für „Grabstätte“; auch ziyarätgah für „Pilgerort“ oder muqäddäs djay für „heiliger Ort“) bei den Uiguren eine große Rolle.[81] In erster Linie wird die Heiligenverehrung (tavap qilish) in Rahmen individueller Besuche am Grab (ziyarät) ausgeübt oder in Form größerer Pilgerfahrten, die an einem bestimmten Kalendertag im Jahr stattfinden. Der Pilger umwandelt die Grabstätte – wie es auch bei der Kaaba in Mekka Brauch ist –, küsst den Sarkophag oder den Heiligen repräsentierende Gegenstände, legt Tücher auf das Grab und zündet Lichter an. Meist erhofft sich der Pilger dadurch die Erfüllung weltlicher Anliegen.[81] Je nach Bedeutung des Heiligen können die Besuche der Grabstätte aber auch entweder als einfache Akte der Verehrung oder im Zusammenspiel mit dem Besuch weiterer entsprechender Wallfahrtsorte auch als Ersatz für die Hāddsch anerkannt werden.[81][261] Auch das mazar selbst erhält durch den dort wohnenden Geist (roh) des Heiligen einen besonderen Status, an dem spirituelle Spezialisten wie Wahrsager bevorzugt ihre Dienste anbieten und an dem die Erde in der Nähe des Heiligtums als heilkräftig gilt.[81] Die Heiligen (ävliya) weisen oft eine Verbindung zu Sufi-Linien auf.[242]

Steppenraute für spirituelle Abwehr- und Reinigungsriten
Verkauf auf einem Markt (in der Stadt Kentau, Kasachstan)
Erhitzen der Samen über Gasflamme als Weihrauch (Ort unbekannt)
Die auch halluzinogen wirkende Steppenraute, bei Uiguren angewendet in der alltäglichen Praxis durch Verbrennen (isriq selish), soll mittels reinigendem und abwehrendem Rauch gefährliche Geister – etwa aus Wohn- und Geschäftsräumen – vertreiben und zugleich gute Geister („Engel“) anziehen[81]
3. – Umgang mit Geistern nichtmenschlichen Ursprungs (ǧinlar, šaytunlar, albastilar u. a.)[242]

Alle djin werden als unberechenbar und im Falle ihrer Verärgerung als gefährlich angesehen, wobei aber einigen (albasti und šaytun) ein immerzu „böser“ und gefährlicher Charakter zugeschrieben wird. Weiterhin glauben die Uiguren an die Existenz weiterer, als „Engel“ (pärishtä, von pers. fereshte) bezeichneter, nichtmenschlicher Geister, denen sie hingegen einen „guten“ und wohlwollenden Charakter zuschreiben.[81]

Mit der Existenz der djin und ihrer scheinbaren Willkür wird nach uigurischem Glauben plötzliches und unverschuldetes Unglück oder Unheil erklärt. Mittels bestimmter Maßnahmen und Riten versuchen Uiguren Schaden abzuwehren,[81] indem sie beispielsweise vermeintlich bevorzugte Aufenthaltsstätten der djin (beispielsweise Friedhöfe,[81][256] unreine Orte oder bestimmte Bäume wie Ulmen meiden) oder bestimmte Pflanzen (isriq selish) verbrennen, deren Rauch vermeintlich reinigende und abwehrende Wirkung hat.[81] Steppenraute (adrasman), Wacholder (archa) und Apfel (Holz und Blätter) sollen nicht nur gefährliche Geister vertrieben, sondern gleichzeitig auch Engel angezogen werden. So übernimmt isriq selish bei Anlässen wie der Eröffnung eines Ladens, dem Einzug in eine Wohnung oder vor Feiertagen eine Funktion bei der Reinigung der entsprechenden Räumlichkeiten.[81]

Traditionelle Heiler oder „Schamanen“

Der Umgang mit Geistern nichtmenschlichen Ursprungs fällt vor allem in den Zuständigkeitsbereich religiöser Spezialisten, die in der Literatur oft als „Schamanen“ bezeichnet werden.[242] Tatsächlich gibt es in den uigurisch geprägten Landesteilen Xinjiangs traditionelle uigurische Heiler und Heilerinnen (baxši/perixon/daxan genannt), deren Praktiken Parallelen zu den „klassischen“ sibirischen Schamanen aufweisen und in ekstatischen Tänzen und Trancezuständen bestehen, mit denen die Heiler nach uigurischer Vorstellung Kontakt zu den Geistern herstellen.[81] Bei den heutigen Uiguren gibt es jedoch nicht nur klassische „Schamanen“ mit ihren typisch schamanischen ekstatischen Tänzen und Trancezuständen, sondern verschiedene Bezeichnungen für Heiler, die neben diesen Techniken noch ein breites Spektrum anderer Methoden anwenden.[81][242] Damit stellen sie den Kontakt mit der Geisterwelt her und bieten verschiedene Dienste an wie Wahrsagerei, Glückbringen und Heilen. Je nach ihren Schwerpunkten und Methoden sind diese Spezialisten entweder bekannt als daxan/baxši/perixon (jeweils als „Schamane“ übersetzt), als palči/qumilaqči (meist als „Seher“ oder „Wahrsager“ übersetzt) oder als ǧadugär/sehirči („Zauberer“).[242] Die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Schamanen (perixan, baxşi) hat dazu geführt, dass andere Spezialisten vernachlässigt wurden, deren Methoden weniger spektakulär waren.[262] Während die Kräfte der bakhshı genannten Schamanen-Heiler als außerordentlich und selten erachtet werden, handelt es sich bei den qumılaqchı Genannten um „schwächere“ Heiler, die in der Regel spirituelle Heilung mit Wahrsagerei verbinden und eine traditionelle Methode der Weissagung mit qumılaq genannten Bohnen oder kleinen Steinen (früher Schafkot) verwenden.[263] Die verschiedenen Bezeichnungen und ihre Übersetzungen werden jedoch offenbar recht willkürlich verwendet und entsprechen keinen klar definierten Berufen, zumal viele dieser Spezialisten gleichzeitig unterschiedliche Rollen mit entsprechend unterschiedlichen Techniken einnehmen. Zudem ist die Verwendung verschiedener Begriffe auch regional bedingt, so dass beispielsweise in der Umgebung von Kaxgar der Begriff daxan vorherrscht, während Heiler in der Region Turpan vorwiegend als molla bezeichnet werden, womit der Unterschied zwischen den Berufen Heiler und Imam verwischt wird. Vereinfacht können die genannten religiösen Spezialisten statt als „Schamanen“ allgemein als „traditioneller Heiler“ oder kurzweg als „Heiler“ bezeichnet werden.[242]

Sowohl bei der Diagnose zur Ursache des zu heilenden Übels, bei dem es sich um sehr unterschiedliche soziale und körperliche Störungen handeln kann,[242] als auch bei der Therapie zu deren Heilung legt der Heiler eine „Kosmologie“ zugrunde, die davon ausgeht, dass Geister Einfluss auf das Leben und Schicksal menschlicher Individuen ausüben und auch umgekehrt die Möglichkeit besteht, diese Geister durch rituelle Handlungen zu beeinflussen.[81] In dieser Vorstellung leiden die Menschen unter dem negativen Einfluss von Geistern und können oft auch über die Geister der Verstorbenen geheilt werden. Die „magischen“ Praktiken sind im Idealfall in der Nähe des Schreins (mazar) eines Heiligen durchzuführen, wo der Geist des ävliya, der über besondere Kraft verfügt, um Unterstützung angerufen wird.[242] Einige Heiler klassifizieren schädliche Geister nach ihrer religiösen Ausrichtung und verwenden verschiedene Beschwörungsformeln, je nachdem, ob als muslimisch, christlich, jüdisch oder „ketzerisch“ (außerhalb der abrahamitischen Religionen stehend) eingestufte Geister ausgetrieben werden sollen. Die Schutzgeister können als islamische Heilige aufgefasst werden, insbesondere als anerkannte Schutzpatrone für verschiedene Berufe.[259] Heilrituale in der Region sind lediglich für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ausreichend ausführlich dokumentiert. Über deren Praxis in jüngster Zeit (Stand: 2004) ist dagegen nur wenig bekannt.[259]

Uigurische Geisterbeschwörer/Heiler innerhalb der Schamanismus-Konzepte der Welt
Zauberer/Wahrsager und Jünger mit Trommel in Ost-Turkestan (1915)[264]
Burjaten-Schamane mit Trommel im Zeremonialgewand (1904)
Weltkarte Schamanismus um 1500 (nach Klaus E. Müller) sowie dokumentierte Beispiele für traditionelle Schamanen und ähnliche Geisterbeschwörer um den Beginn des 21. Jahrhunderts herum.
Bild links: Für Ostturkestan ist aus dem Jahr 1915 dokumentiert, wie eine Frau mit dem Gesuch einen Sohn zu gebären zunächst einen Schrein mit einem Gebet anrief und Erde aus dem Grabmal schluckte, um sich dann mit ihrem Wunsch an einen bakhshi (Zauberer) zu wenden. Der bakhshi spielte auf der Trommel und sang Kauderwelsch, während die Bittstellerin tanzte, bis ihr schwindlig wurde und sie nach der Zeremonie eine Gebühr zahlte, Almosen verteilte und Speisen am Grab ihrer Ahnen opferte.[264]
Bild in der Mitte: Das klassische sibirische Schamanentum dient oft als Paradigma für verschiedenste Schamanismus-Konzepte
Bild rechts: Für die „Uiguren“ ist in Nordwestchina demnach um 1500 die Kategorie „Besessenheit-Schamanismus“ im „islamischen Einflussbereich“ (blau) angegeben und für das 21. Jh. „lokale Gemeinschaften mit weitgehend intakten traditionellen Strukturen, in denen Geisterbeschwörer noch einige ihrer ursprünglichen Funktionen ausüben. Ihre Funktionen sind jedoch durch moderne Einflüsse bereits mehr oder weniger beeinflusst.“
Abgrenzung zum „Schamanismus“-Begriff und Integration in den Islam

Zwar ist bei den Uiguren ein Glaube an spirituelle Wesen verbreitet, die mit dem Leben der Menschen interagieren. Im Gegensatz zur Darstellung vieler ethnographischer Werke aus der Sowjetunion und China jedoch, die vor dem Hintergrund marxistisch beeinflusster Kulturtheorien von „dem Schamanismus“ als einer eigenen Religionsform ausgingen, stellt die Person des Geisterheilers oder Schamanen bei den Uiguren keine zentrale Instanz dieses Weltbilds dar, wie mit dem Begriff „Schamanismus“ in den meisten Darstellungen suggeriert wird.[81] Im Fall der Vorstellungen der modernen Uiguren ist angesichts ihrer komplexen Ethnogenese und in der Region gegenüber vielen religiösen Einflüssen besonders exponierten Lage umstritten, ob der Begriff „Schamanismus“ angewendet werden sollte, der von der gut erforschten Natur des Glaubens vorislamischer turkstämmiger Gruppen bekannt ist, aber ein integrales System mit eigener Kosmologie, religiöser Hierarchie und eigenen Praktiken suggeriert, während bei den Uiguren eine lange Geschichte der Islamisierung besteht und jegliche indigene Konzeptualisierung fehlt.[259]

Das von einigen Gelehrten unter „Schamanismus“ subsumierte Phänomen kann im Fall der Uiguren besser als eine Reihe von Heilmethoden beschrieben werden, die tief in den lokalen Volksglauben integriert wurden.[259] Die rituellen Praktiken der Schamanen der Uiguren konzentrieren sich auf Heilung und verwandte Rituale.[260] Diese Heilpraktiken der modernen Uiguren bilden ein synkretistisches Gefüge, in dem vorislamische Elemente und möglicherweise der Einfluss anderer Traditionen untrennbar miteinander verbunden sind.[259] Gleichzeitig sind sie untrennbar mit dem Islam und der muslimischen Lebensweise verbunden.[259][260] Der Einfluss des Sufismus als einer ekstatischen Islam-Form nimmt ebenso eine wichtige Rolle ein wie der Einfluss des sich auf die Geister toter Verwandter und enger Familienangehöriger beziehende „häusliche Kult“. Für Exorzismuszeremonien und Heilrituale, die schädliche Geister aus dem Körper des Kranken austreiben sollen (päri oynatiş, dt.: „den Päri zum Tanzen bringen“; oder: oyun, dt. „Tanz“),[259][260][265] kommen unter anderem Beschwörungsformeln für islamische Heilige, andere Exorzismusformeln und aus Koranversen bestehende arabische Gebete zum Einsatz.[260] Bei den Uiguren dienen die Geisterheiler oder Schamanen somit lediglich als eine praktische Institution im lokalen Islam. Sie bieten dem einzelnen Ratsuchenden die Möglichkeit, sich in einer konkreten Situation aus dem Angebot der „heterodoxen“ Dienstleistungen zu bedienen, die somit für ihn eine wichtige Ergänzung zum Angebot des örtlichen Imams darstellen, falls dieser die entsprechenden Techniken nicht selbst anbietet.[81]

Unterdrückung und Sinisierung religiöser Ausdrucksformen seit 2017[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Unkenntlich gemachte Moschee-Abbildungen (Turpan, 2018)
Rot übermalt, mit roter-Plakette
Weiß übermalt, mit roter-Plakette
Überklebt, mit roter-Plakette
Rot übersprüht und überklebt
Über den Türen vieler Haushalte in diesem überwiegend uigurisch bewohnten Viertel befinden sich unkenntlich gemachte Bilder von Moscheen.
An vielen Häusern und Schaufenstern Turpans war 2018 eine von der Regierung ausgestellte rote Plakette mit der Aufschrift 平安家庭 („friedlicher Haushalt“) angebracht.[266] Die drei ersten Fotos zeigen im Eingangsbereich die rote Plakette mit der Aufschrift 平安家庭 (und teils mit 社会稳定 und 长治久安)

Bereits 2016 hatte der chinesische Staatsführer Xi Jinping in einer Grundsatzrede eine Strategie der „Sinisierung von Religionen“ propagiert, mit der die VR China eine effektive Überwachung und Kontrolle auch derjenigen Gesellschaftsbereiche gewährleisten wollte, die nicht unmittelbar der KPCh unterstellt waren. Wörtlich sagte Xi in der Rede: „Religionen in China müssen chinesisch ausgerichtet sein“ und „sich an die sozialistische Gesellschaft anpassen“. Anders als die muslimische Ethnie der Hui waren die Uiguren zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht kulturell und religiös weitgehend assimiliert, sondern von der Mehrheit der Han-Chinesen in ihrem Äußeren zu unterscheiden. Sie wurden in den folgenden Jahren mit großer Härte unterdrückt.[267]

Seit 2017 begann der chinesische Staat mit der systematischen Einschränkung persönlicher Ausdrucksformen islamischer Kultur und islamischen Glaubens in Xinjiang.[8] 2019 erklärte Shorat Zakir als Gouverneur Xinjiangs gegenüber der internationalen Presse, China werde auch weiterhin am „sehr erfolgreichen Programm der De-Radikalisierung“ in Xinjiang festhalten.[268] Im Zuge der offiziellen Einführung und des Ausbaus des Systems der „Berufsbildungszentren“ (zhiye jineng jiaoyu peixun zhongxin 職業 技能 教育 培訓 中心) in Xinjiang, das Anfang 2017 intensiviert wurde und in der Öffentlichkeit als Kampagne der „Umerziehung“ (zai jiaoyu 再教育) der Uiguren bezeichnet wird, wurde das chinesische Mond-Neujahr zum größten kulturellen Jahresereignis der Uiguren. Indem über 1,1 Million vorwiegend han-chinesische Staatsangestellte in den uigurischen Dörfern stationiert und bis zu eine Million Uiguren und andere turkstämmige Muslime inhaftiert wurden, ersetzte das chinesische Neujahrsfest zusammen mit anderen chinesischen Festen wie dem Drachenbootfest die traditionellen heiligen Feiertage der Uiguren, Eid al-Adha (qurban heyt) und Eid al-Fitr (roza heyt), die stattdessen – ebenso wie das traditionelle uigurische Frühlingsfest Nawruz – den Uiguren verboten und als Anzeichen für „religiösen Extremismus“ stigmatisiert wurden.[195] Selbst an und in Moscheen wurden überdimensionale rote Banner mit Regierungspropaganda wie dem politischen Slogan „爱党 爱国“ (dt.: „Liebe die Partei, liebe das Land“) angebracht.[173][215][269][270][271][272]

Seit dieser Zeit rückten die staatlichen Behörden in Xinjiang die Bedeutung „anti-terroristischer“ (fankong 反恐) und „entextremisierter“ (qujiduanhua 去極端化) Kulturarbeit in den Vordergrund, die als „Aufrechterhaltung der Stabilität“ (weiwen 維穩) bekannt ist und „Präventivmaßnahmen gegen Terrorismus“ (yufangxing fankong 預防性反恐) beinhaltet. In diesem Zusammenhang errichteten die Regionalbehörden ein alle Uiguren und anderen turkstämmigen Muslime Nordwestchinas betreffendes System von außergerichtlichen Internierungen und Zwangserziehungs-Programmen, das darauf abzielt ihre islamischen „Tumore auszurotten“ und ihre „Herzen und Gedanken zu waschen“, um sie mit han-chinesischen Kulturwerten und chinesischen politischen Überzeugungen zu ersetzen.[195] Die Kampagne gegen religiösen Extremismus in Xinjiang richtet sich in der Praxis jedoch nicht gegen eine für Radikalisierung und gewalttätige Aktionen anfällige Minderheit, sondern pauschal gegen alle Ausdrucksformen des islamischen Glaubens.[10]

Gleichzeitig wurde laut dem englischsprachigen KPCh-Organ Global Times ein Fünfjahresplan erstellt und Anfang Januar 2019 mit Islam-Vertretern aus acht Provinzen und Regionen auf einer Arbeitssitzung in Peking mit dem Ziel besprochen, die sogenannte „Sinisierung des Islams“ in China voranzutreiben. Nach Ansicht verschiedener Fachleute wie dem Experten für chinesische Minderheitenpolitik, David Stroup (Universität von Oklahoma) oder dem Historiker Haiyun Ma (Frostburg State University in Maryland) bildet die Beseitigung ausländischen Einflusses das Hauptmotiv für den Fünfjahresplan zur „Sinisierung des Islams“. Arabische Einflüsse sollen laut Ma aus dem Leben der Muslime in China ausgemerzt und ihre kulturellen Verbindungen zu islamischen Ländern auf ein Minimum reduziert oder ganz unterbrochen werden, um die muslimische Bevölkerung unter dem Vorwand der Globalisierung zu isolieren. Im November 2018 berichtete die Global Times, dass die Erfahrungen aus dem Vorgehen in Xinjiang auch in anderen Regionen mit nennenswertem muslimischem Bevölkerungsanteil angewandt werden sollen.[268]

Mündliche Überlieferung und Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Interaktion zwischen mündlicher und schriftlicher Überlieferung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Anhand des Beispiels der epischen Dichtung der Uiguren lässt sich zeigen, dass bei den Uiguren eine Wechselbeziehung zwischen oraler und literarischer Überlieferung besteht.[212][273] Der Umstand, dass die Uiguren das sprachliche und literarische Erbe der tschagataischen Sprache fortführen, macht die Tatsache verständlich, dass auch in der mündlichen epischen Überlieferung der Uiguren Alphabetisierung und schriftliche Literatur eine bedeutende Rolle gespielt haben. Zahlreiche Erzählungen sind von der mündlichen zur schriftlichen Form übergegangen und umgekehrt. Eine große Anzahl von Volksepen und Romanzen fanden Niederschrift oder Übertragung in handschriftliche oder gedruckte Form und beeinflussten selbst wiederum mündlich übermittelte Versionen.[212]

In dieser kulturellen Region, die seit Jahrhunderten mit dem hohen Literaturstand sowohl in tschagataiischer als auch in persischer Sprache in Kontakt stand, standen schriftliche und mündliche Überlieferung, das Auswendiglernen fester Textformen und die Kunst des Freestyles (im Sinne von „Composition in Performance“) in enger Verbindung miteinander.[212] So hatten etwa improvisierende Live-Aufführungen hatten einen außerordentlich großen Einfluss auf verschiedene literarische Formen wie beispielsweise niedergeschriebene dastan-Erzählungen. Viele Schriftsteller und Dichter haben Inspirationen aus Themen und Bildsprache der Volksepen gewonnen. Gleichzeitig beeinflusste und beeinflusst aber auch die schriftliche in umgekehrter Richtung die mündliche Überlieferung, so dass eine reziproke Beziehung zwischen oraler und literarischer Tradition besteht.[273] Die mündliche epische Dichtung der Uiguren unterscheidet sich in dieser Hinsicht deutlich von der solcher turksprachigen Völker, deren traditionelle Kultur eher nomadisch als urban geprägt war oder ist.[212]

Mündliche Überlieferung[Bearbeiten |