Marschhämoglobinurie

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Klassifikation nach ICD-10
D59.6 Marschhämoglobinurie
ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Als Marschhämoglobinurie (englisch march hemoglobinuria[1]) wird eine durch die Anwesenheit des Blutfarbstoffs Hämoglobin im Urin (Hämoglobinurie) entstehende bräunliche Harn-Verfärbung bezeichnet, der kein Krankheitswert zukommt. Der Befund tritt meistens als Zufallsbefund bei Urinuntersuchungen auf, wenn körperliche Anstrengungen, wie lange, harte Märsche, Marathon, Hand-Trommeln[2] oder sonstige schwere körperliche Arbeit, der Probenahme vorausgegangen sind. Aus diesem Umstand leitet sich auch der Name des Phänomens ab.[3][4]

Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

„Bei Soldaten wurde erstmalig nach langen Fußmärschen eine Dunkelfärbung des Urins beobachtet.“[5] „Ebenso können anstrengende Märsche zur paroxysmalen Hämoglobinurie und zur Schädigung der Nieren führen.“[6] Die Marschhämoglobinurie wurde erstmals 1881 von R. Fleischer beschrieben.[7] Im Anschluss an Koelmanns Breslauer Dissertation 1896 entwickelte sich eine umfangreiche Fachliteratur.[8]

Häufiger findet sich heute der ähnliche (bei „Marschübungen und Dauerlaufsynonyme[9]) Begriff der Sporthämoglobinurie, welche nicht mit der Sporthämaturie zu verwechseln ist.

Otto Dornblüth beschrieb 1922 die „transitorische oder paroxysmatische Hämatoglobinurie nach Transfusion, Körperanstrengung, Verbrennung, Kälteeinwirkung, dies besonders bei Syphilitischen. Der Hämatoglobinurie liegt zugrunde die Hämatoglobinämie, vergleiche Hämolyse und Hämochromatose.“[10]

„Nur aufrechtes Gehen führt zur Hämoglobinurie, und zwar hängt die Erscheinung von der Art des Gehens ab, insofern sie nur beim Gehen in lordotischer Haltung sich zeigt. Andere körperliche Betätigungen (Freiübungen, Holzsägen und so weiter) haben keinen Einfluß. Der Blutzerfall geht in der Niere vor sich. Die Lordose führt eine mechanisch (Abklemmung der linken Vena renalis wie bei der lordotischen Albuminurie Jehles) oder reflektorisch ausgelöste Zirkulationsstörung in der Niere, die zur Hämolyse und leichten Albuminurie (letztere als Ausdruck der Nierenschädigung) führt, herbei.“[11] Besonders betroffen seien „lordotische Orthostatiker nach längerem Gehen.“[12]

Mehrere andere ähnlich umstrittene Erklärungsversuche für die Marschhämoglobie beschrieb 1934 Leopold Lichtwitz.[13]

Pathophysiologie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Bei der Marschhämoglobinurie kommt es circa ein bis drei Stunden nach schwerer körperlicher Anstrengung für mehrere Stunden zu einer Ausscheidung roten Blutfarbstoffs (Hämoglobin) durch die Nieren. Als Ursache hierfür wird heute eine Schädigung der roten Blutkörperchen (Hämolyse) in den Blutkapillaren angenommen. Bei langen Fußmärschen ist eine traumatische Zerstörung der Erythrozyten durch den Druck auf die Fußsohlen wahrscheinlich ursächlich,[14] also eine mechanische Schädigung (Torquierung) der roten Blutkörperchen infolge einer Wirbelbildung in den Kapillaren der Fußsohle mit intravaskulärer Hämolyse.[15] Das Ausmaß der Hämolyse wird vom Laufstil und auch von der Bodenbeschaffenheit deutlich mitbestimmt. Vermutet werden als Mitursachen harte Schuhsohlen und eine harte Bodenoberfläche.

Die Ausscheidung des hämoglobinhaltigen und eventuell auch myoglobinhaltigen Urins wenige Stunden nach einer übermäßigen körperlichen Belastung (Marschieren[16]) tritt vor allem bei Männern im zweiten oder dritten Lebensjahrzehnt auf. Zusätzlich kann es zur Albuminurie kommen. Die intravasale Hämolyse wird wahrscheinlich durch eine verminderte mechanische Resistenz der mikrotraumatisierten Erythrozyten verursacht.[17][18] Zur „mechanischen Hämolyse mit Fragmentozyten kommt es nach einem Herzklappenersatz, bei der Runner's anemia beziehungsweise bei der Marschhämolyse.“[19]

„Unklar ist, aus welchen Gründen es bei einigen Marathonläufern diskontinuierlich in manchen Situationen zur Hämolyse kommt. Die Marschhämoglobinurie ist akut auftretend und selbst limitierend, ausgelöst durch das direktmechanische Trauma auf die Erythrozyten. Ein ähnliches Trauma kann nach langem barfüßigen Tanzen oder [nach] intensivem Trommeln auftreten.“[20] Außerdem sind Trabreiter sowie Motocross-Fahrer, die ständig Stöße an den Handwurzeln bekommen, dafür bekannt, eine ähnliche Hämoglobinurie zu zeigen.

Diagnostik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Erforderlich ist eine Urinuntersuchung (Harnschau, Urognostik, Uroskopie). Hinweisend ist eine Dunkelfärbung des Urins.[21] Die Benzidinprobe ist positiv. Es kommt nicht zur Hämaturie. Im Urinsediment findet man „stets die charakteristischen gelben hämoglobingefärbten Eiweißkörper und im Blute eine Hämoglobinämie. Der Bilirubinspiegel steigt schnell an, auch im larvierten Anfall. Im Anfall findet man eine Leukozytose.“[22]

Symptomatik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Unter Umständen treten Muskelverhärtungen sowie flüchtige Schwellungen von Leber und Milz auf.[23] Eine histologische Nierenschädigung im Sinne einer Nierenkrankheit (Nephropathie) wurde nie nachgewiesen; entsprechende Lendenschmerzen wurden jedoch angegeben.

Therapie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

1939 wurde gelehrt: „Eine Therapie ist kaum nötig. Es genügt möglichste Beseitigung lordotischer Haltung.“[24] „Eine Behandlung des harmlosen Zustandes ist nicht nötig.“[25]

Vorbeugung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Als Vorbeugemaßnahme hat sich das Tragen von weichen Schuheinlagen bewährt. Früher wurde behauptet, es lasse „sich die Marschhämoglobinurie vermeiden, wenn beim Laufen die Lordose der Wirbelsäule vermieden wird.“[26][27] Denn eine Hyperlordose verstärke die Hämolyse.[28] In der aktuellen Fachliteratur werden die Lordosevermeidung und insbesondere die Kyphosierung zur Vorbeugung einer belastungsinduzierten Hämolyse nicht mehr erwähnt.[29][30][31]

Differenzialdiagnose[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Marschhämoglobinurie ist abzugrenzen von der Sporthämaturie und von der Marschhämaturie.[32] Hier findet man im Urin mehr Erythrozyten und weniger Hämoglobin als bei der Marschhämoglobinurie. Außerdem ist differenzialdiagnostisch an die Kältehämoglobinurie und an die harmlose Marschalbuminurie zu denken.[33] Außerdem gibt es den Begriff der Sportproteinurie in Zusammenhang mit marschierenden Soldaten.[34]

Andere Ursachen einer Hämolyse, einer Hämoglobinämie und einer Hämoglobinurie sind auszuschließen. Der Begriff der Marschhämoglobinurie ist der Hämoglobinurie nur nach Gehen, Laufen, Wandern oder Marschieren vorbehalten. Die Hämoglobinurie bei anderen Sportarten heißt Sporthämoglobinurie. Bei anderen repetitiven nichtsportlichen Betätigungen gibt es den Oberbegriff Bewegungshämoglobinurie.

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Quellen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Roche Lexikon Medizin. 5. Auflage, Verlag Urban & Fischer, München / Jena 1984, ISBN 3-437-15156-8, S. 1177.
  2. Diego Tobal, Alicia Olascoaga, Gabriela Moreira, Melania Kurdián, Fernanda Sanchez, Maria Roselló, Walter Alallón, Francisco Gonzalez Martinez, Oscar Noboa: Rust Urine after Intense Hand Drumming Is Caused by Extracorpuscular Hemolysis. In: Clinical Journal of the American Society of Nephrology. Nr. 3, 2008, S. 1022–1027 (Abstract).
  3. Willibald Pschyrembel: Klinisches Wörterbuch, 256. Auflage, Verlag de Gruyter, Berlin / New York 1990, ISBN 3-11-010881-X, S. 1026.
  4. Willibald Pschyrembel: Klinisches Wörterbuch, 268. Auflage, Verlag de Gruyter, Berlin / Boston 2020, ISBN 978-3-11-068325-7, S. 1081.
  5. Maxim Zetkin, Herbert Schaldach: Lexikon der Medizin, 16. Auflage, Ullstein Medical, Wiesbaden 1999, ISBN 978-3-86126-126-1, S. 1244.
  6. Max Bürger: Einführung in die innere Medizin, Sammelwerk "Der Kliniker", Verlag Walter de Gruyter, Berlin 1952, S. 252.
  7. R. Fleischer: Ueber eine neue Form von Hämoglobinurie beim Menschen. In: Berliner Klinische Wochenschrift. No. 47, 1881.
  8. Erich Meyer: Die Hämoglobinurie, in: Albrecht Bethe, Gustav von Bergmann, Gustav Embden, Alexander Ellinger (Hrsg.): Handbuch der normalen und pathologischen Physiologie, Verlag von Julius Springer 1928, 6. Band, 1. Hälfte, 1. Teil: Blut und Lymphe, ISBN 978-3-642-89178-6, S. 586–600, Unterkapitel Die Marschhämoglobinurie, S. 596–598. doi:10.1007/978-3-642-91034-0.
  9. Georg A. Narciß: Knaurs Wörterbuch der Medizin, Droemer Knaur Verlag, München 1988, ISBN 3-426-26361-0, S. 497.
  10. Otto Dornblüth: Klinisches Wörterbuch, 11. Auflage, Verlag Walter de Gruyter, Berlin / Leipzig 1922, S. 153.
  11. Alfred Schittenhelm: Die Marschhämoglobinurie, in: Lehrbuch der inneren Medizin. 4. Auflage. 2. Band, Verlag von Julius Springer, Berlin 1939, S. 347.
  12. Theodor Brugsch: Lehrbuch der inneren Medizin, 5. Auflage, 2. Band, Verlag Urban & Schwarzenberg, Berlin/ Wien 1940, S. 1243.
  13. Leopold Lichtwitz: Die Praxis der Nierenkrankheiten, 3. Auflage, Verlag von Julius Springer, Berlin 1934, Digitalisierungsprojekt Springer Book Archive, ISBN 978-3-642-49413-0, S. 46–48.
  14. Walter Siegenthaler et alii (Hrsg.): Lehrbuch der inneren Medizin, Georg Thieme Verlag, 3. Auflage, Stuttgart, New York 1992, ISBN 3-13-624303-X, S. 685.
  15. Maxim Zetkin, Herbert Schaldach: Lexikon der Medizin, 16. Auflage, Ullstein Medical, Wiesbaden 1999, ISBN 978-3-86126-126-1, S. 1244.
  16. Peter Reuter: Springer Klinisches Wörterbuch 2007/2008. 1. Auflage, Springer-Verlag, Heidelberg 2007, ISBN 978-3-540-34601-2, S. 1131.
  17. Günter Thiele: Handlexikon der Medizin, Verlag Urban & Schwarzenberg, München/ Wien/ Baltimore ohne Jahr [1980], Teil III (L–R), S. 1555.
  18. Lexikon Medizin, 4. Auflage, Verlag Naumann & Göbel, Köln ohne Jahr [2005], ISBN 3-625-10768-6, S. 1067.
  19. Gerd Harald Herold: Innere Medizin 2021, Selbstverlag, Köln 2020, ISBN 978-3-9821166-0-0, S. 43.
  20. Tinsley Randolph Harrison: Harrisons Innere Medizin, 20. Auflage, Georg Thieme Verlag, Berlin 2020, 1. Band, ISBN 978-3-13-243524-7, S. 889.
  21. Maxim Zetkin, Herbert Schaldach: Lexikon der Medizin, 16. Auflage, Ullstein Medical, Wiesbaden 1999, ISBN 978-3-86126-126-1, S. 1244.
  22. Alfred Schittenhelm: Die Marschhämoglobinurie, in: Lehrbuch der inneren Medizin. 4. Auflage. 2. Band, Verlag von Julius Springer, Berlin 1939, S. 346 f.
  23. Günter Thiele: Handlexikon der Medizin, Verlag Urban & Schwarzenberg, München/ Wien/ Baltimore ohne Jahr [1980], Teil III (L–R), S. 1555.
  24. Alfred Schittenhelm: Die Marschhämoglobinurie, in: Lehrbuch der inneren Medizin. 4. Auflage. 2. Band, Verlag von Julius Springer, Berlin 1939, S. 347.
  25. Hans Julius Wolf: Einführung in die innere Medizin. 7. Auflage. Georg Thieme Verlag, Leipzig 1960, S. 311.
  26. Theodor Brugsch: Lehrbuch der inneren Medizin, 5. Auflage, 2. Band, Verlag Urban & Schwarzenberg, Berlin/ Wien 1940, S. 1243.
  27. Homer William Smith: March hemoglobinuria, in: Homer William Smith: The Kidney: Structure and Function in Health and Disease, Oxford University Press, New York 1951, S. 657.[1]
  28. Yasuhico Ohno, Masatsugu Sato, Izumi Kurokawa, Yoshiaki Moriyama, Osamu Kobayashi, Hideaki Saito, Yasutami Kinoshita: Exertinal Haemoglobinuria, in: Tohoku Journal of experimental Medicine, 1975, 117. Jahrgang, S. 187–191. [2].
  29. Giuseppe Lippi, E. J. Favaloro, Fabian Sanchis-Gomar: Sudden Cardiac and Noncardiac Death in Sports: Epidemiology, Causes, Pathogenesis, and Prevention. In: Seminars in Thrombosis and Hemostasis, 2018; 44. Jahrgang, S. 780–786. doi:10.1055/s-0038-1661334.
  30. Giuseppe Lippi, Fabian Sanchis-Gomar: Epidemiological, biological and clinical update on exercise-induced hemolysis, in: Annals of Translational Medicine, Juni 2019; Band 7(12): S. 270. doi:10.21037/atm.2019.05.41. PMID 31355237. PMC 6614330 (freier Volltext)
  31. D. Rourke Gilligan, M. D. Altschule, E. M. Katersky: Physiological intravascular hemolysis of exercise. Hemoglobinemia and Hemoglobinuria following cross-country runs, in: The Journal of Clinical Investigation, Volume 22, Issue 6, 1. November 1943, doi:10.1172/JCI101460. PMID 16695071. PMC 435304 (freier Volltext)
  32. Peter Reuter: Springer Klinisches Wörterbuch 2007/2008. 1. Auflage, Springer-Verlag, Heidelberg 2007, ISBN 978-3-540-34601-2, S. 1131.
  33. Willibald Pschyrembel: Klinisches Wörterbuch, 268. Auflage, Verlag de Gruyter, Berlin / Boston 2020, ISBN 978-3-11-068325-7, S. 1081.
  34. Hans Sarre, Reinhold Kluthe: „Nephrotisches Syndrom einschließlich renal bedingter Ödeme.“ In: Handbuch der inneren Medizin, 5. Auflage, 8. Band, 2. Teil, Springer-Verlag, Berlin / Heidelberg / New York 1968, S. 234.