Leutnante 70

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Als „Leutnante 70“ ging eine Gruppe von acht Offizieren der Heeresoffizierschule II in die Geschichte der Bundeswehr ein, die am 10. März 1970 in Hamburg neun Thesen veröffentlichte, in denen sie einen von traditionalistischen Fesseln befreiten Offizierstyp forderten. Die Thesen der Gruppe zu einer liberalen Reform der Bundeswehr fanden ihren Weg in die Truppe und in die Öffentlichkeit.[1]

Hintergrund[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nachdem 1969 der damalige Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Albert Schnez, in seiner Studie – die sogenannte „Schnez-Studie“ – die Konzeption der Inneren Führung als zu theorielastig und kontraproduktiv zur Schlagkraft einer Armee beschrieben hatte, nahmen dies die acht Mitglieder der Gruppierung zum Anlass für eine entsprechende Gegenreaktion, die damals teilweise als überzogen wahrgenommen wurde.[2] Es war das zweite Mal, dass sich Teile des Offizierskorps in der Amtszeit von Verteidigungsminister Helmut Schmidt kritisch zur Bundeswehr äußerten.[3]

Inhaltlich forderte die Gruppe vor allem eine grundlegende Mitbestimmung bzw. Beteiligung, das offene Hinterfragen von Entscheidungen und Führungsverhalten von Vorgesetzten ebenso wie die scharfe Trennung von Dienst und Freizeit.[2]

Ermutigt wurde die Gruppe zum Verfassen ihrer Thesen durch Wolf Graf von Baudissin, dem Vater der Konzeption der Inneren Führung. Er äußerte sich zu den Thesen mit dem Satz: „Was heute noch Utopie ist, ist hoffentlich morgen normal und vielleicht übermorgen schon Tradition.“[4]

Gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erklärte die Gruppe damals:[5]

„Weil heute die Vernichtungsmittel in dieser Art und Weise gegeben sind, ist unsere Verantwortung gegenüber dem Staat eine ungeheure. […] Unsere Verantwortung ist weit größer als die des Managers in einem Industriebetrieb. […] Deshalb müssen wir mehr tun, als nur Frieden erhalten zu wollen, um eine Antwort auf das eigene Infragegestelltwerden geben zu können, um der eigenen Verantwortung gerecht zu werden und um die Absurdität des Soldatenberufs überwinden zu können. Ich muß für den Frieden arbeiten wollen.“

Konkret dachte die Gruppe an eine Tätigkeit für Friedensforschunginstitute, wie sie schließlich das 1971 aufgestellte Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) in Hamburg wahrnahm, dessen erster Leiter Graf von Baudissin wurde.

Reaktionen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Verteidigungsminister Schmidt verwies darauf, dass nicht die Bundeswehr die Gesellschaft zu gestalten habe, sondern diese sich Einrichtungen wie die Bundeswehr schaffe. Ferner sollten sich Experten der Anwendung physischer Gewalt seiner Meinung nach nicht gleichzeitig mit der Gestaltung des Friedens auseinandersetzen.[4] Konkret bewertete er die Thesen als „teils diskutabel, in einigen Punkten falsch, in anderen provokant“.[6]

Aber auch Graf von Baudissin bewertete die Forderung der Gruppe zur (Mit-)Gestaltung der Gesellschaft als über das Ziel hinausgeschossen.[4] Er konstatierte: „Zum ersten Mal haben mich aktive Offiziere links überholt.“[6]

Diskutiert wurde die Gruppe und deren Forderungen auch in den Fachtagungen in Zusammenhang mit der Erstellung des Weißbuchs der Bundeswehr.[1]

Als Antwort auf die Thesen der „Leutnante 70“ konterten 1971 die „Hauptleute von Unna“ aus dem Bereich der 7. Panzergrenadierdivision, die inhaltlich eher mit Schnez übereinstimmten.[2][7] Ebenso meldeten sich mit Unterstützung und Teilnahme des „Arbeitskreises Demokratischer Soldaten“ (ADS) nunmehr Wehrpflichtige zu Wort. Auf einer Pressekonferenz am 10. Mai 1970 stellten sich 13 Soldaten – 12 von ihnen in Uniform – in Bonn der Öffentlichkeit mit ihren Ansichten und Forderungen in der Wehrpflichtigenstudie „Soldat 70“ vor und übergaben sie der Öffentlichkeit.[8]

Unter anderem wurden die Thesen der Gruppe im Rahmen des Seminars „Auf der Suche nach dem Bild des Offiziers“ 1984 am Zentrum Innere Führung erörtert.[9]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Thesen der Leutnante 70. In: Winfried Vogel: Karl Wilhelm Berkhan. Ein Pionier deutscher Sicherheitspolitik nach 1945 : Beiträge zu einer politischen Biographie. Edition Temmen, 2003, ISBN 3-861-08394-9, S. 175.
  • Innere Führung der Bundeswehr: Material zur Gruppe „Leutnante 70“, Bd. 29, Abschn. „Materialsammlung Bundeswehr“ in der Sammlung Bernd C. Hesslein des Instituts für Zeitgeschichte.
  • Innere Führung der Bundeswehr: Material zur Gruppe „Leutnante 70“ / „Soldat 70“, Bd. 30, Abschn. „Materialsammlung Bundeswehr“ in der Sammlung Bernd C. Hesslein des Instituts für Zeitgeschichte.
  • Materialien im Nachlass von Ulrich de Maizière zur Gruppe „Leutnante 70“ im BArch, N 673/71.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b André Uzulis: Die Bundeswehr. Eine politische Geschichte von 1955 bis heute. E.S. Mittler & Sohn, 2015, ISBN 3-813-21010-3, S. 186 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  2. a b c Innere Führung – Führungskultur in Flecktarn. In: Ethik und Militär, Ausgabe 2016/1 – Innere Führung.
  3. Hauptleute – Einmaliger Vorgang. Der Spiegel 14/1971, 29. März 1971, S. 22.
  4. a b c Simone Grün: Command Responsibility. LIT Verlag, Münster 2017, ISBN 3-643-13784-2, S. 151–152 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  5. Leutnants fordern die Tradition heraus. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. Januar 1970, S. 9.
  6. a b Originaldurchschlag der Reformthesen der „Leutnante 70“. In: IF: Innere Führung. Landesbildungsserver Baden-Württemberg.
  7. Thorsten Loch: Das Gesicht der Bundeswehr. Kommunikationsstrategien in der Freiwilligenwerbung der Bundeswehr 1956 bis 1989. Walter de Gruyter, 2008, ISBN 3-486-71221-7, S. 250 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  8. siehe hierzu im Artikel über die Soldatenzeitung Rührt Euch.
  9. Auf der Suche nach dem Bild des Offiziers. Seminar zu den Thesen der „Leutnante 70“ und der der Ergebnisniederschrift der „Hauptleute von Unna“. In: Texte und Studien des Zentrums Innere Führung. Reihe Ausbildungspädagogik, H. 1/1984, S. 119–141.