Kriminalbiologie

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Die Kriminalbiologie ist eine Bezugswissenschaft und Teildisziplin der Kriminologie. Die Kriminalbiologie befasst sich als Wissenschaft mit den körperlichen, insbesondere den genetischen Merkmalen von straffälligen Menschen zum Zeitpunkt der Tatbegehung eines Verbrechens. Früher wurde verbreitet auch die Bezeichnung Kriminalanthropologie synonym verwendet.

In der historischen Betrachtung waren biologisch-anthropologische Theorien (Verursachung der Kriminalität ausschließlich oder vorwiegend durch Vererbung) zu den Ursachen der Kriminalität prägend für die Kriminologie. Moderne kriminalbiologische Theorien gehen vom Bestehen einer ständigen Wechselwirkung zwischen Erbanlage und Umweltfaktoren aus.[1]

Ursprünge[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Kriminalbiologie spielte im ausgehenden 19. Jahrhundert in Folge der Rezeption von Charles Darwin eine zunehmend wichtige Rolle im Wissenschaftsdiskurs über das Verbrechen. Der Verbrecher, einst als moralisch gestrauchelter Mensch angesehen, wurde nunmehr eher als biologisch defektes Wesen, als „verhinderter“ mehr denn als „gefallener“ Mensch angesehen (Peter Becker).

Mit Cesare Lombrosos erstmals 1876 veröffentlichtem Werk L’Uomo delinquente, das 1877 als Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung in deutscher Sprache publiziert wurde, und den damit verbundenen Diskussionen über die bereits zu dieser Zeit umstrittene Lehre des Italieners vom delinquente nato – dem „geborenen Verbrecher“ – etablierte sich der biologische Ansatz als eine der Strömungen, die in den 1880er und 1890er Jahren die Entstehung der Kriminologie als Wissenschaft beeinflussen sollten.

Als zweite maßgebliche Entwicklung, die zur Begründung der deutschen Kriminologie führte, gilt die Herausbildung der sogenannten modernen Strafrechtsschule unter der Führung des Berliner Rechtswissenschaftlers und Kriminalpolitikers Franz von Liszt in den 1880er Jahren.[2] So soll auch der Begriff „Kriminalbiologie“ auf Liszt zurückgehen (1888).[3][4]

In Bayern sammelte der Kriminalbiologische Dienst von 1923 bis 1945 Angaben zu den physischen Merkmalen von Gefangenen.[5] 1927 gründete Adolf Lenz in Wien die Kriminalbiologische Gesellschaft und gab im selben Jahr das für die weitere Entwicklung der Kriminalbiologie maßgebliche Werk Grundriss der Kriminalbiologie heraus.[6]

Zeit des Nationalsozialismus und die Folgen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ihren Durchbruch erlebte die Kriminalbiologie in der Zeit des Nationalsozialismus. Der Rassentheoretiker Robert Ritter leitete ab 1936 die Rassenhygienische Forschungsstelle, die in Zehntausenden von „Zigeuner“-Gutachten die Grundlagen zum Völkermord an Sinti und Roma legte. Nach seiner und Heinrich Himmlers Auffassung hatten 9 von 10 „Zigeunern“ kein Recht zu leben. Ab 1941 leitete Ritter ein Kriminalbiologisches Institut der Sicherheitspolizei im Hauptamt Sicherheitspolizei, das ab September 1939 Teil des Reichssicherheitshauptamtes war.

Notker Hammerstein rechtfertigte Ritters Taten noch 1999 in einer „Auftragsarbeit“ (Ernst Klee) für die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG; und damit auch die seiner NS-Mitarbeiterinnen Eva Justin, ebenfalls Stadt Frankfurt, und Sophie Ehrhardt). Das Buch Hammersteins wurde allerdings nach Klees Kritik von der DFG selbst indirekt in Frage gestellt.

Kriminologie und heutige Evolutionsbiologie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Evolutionsbiologie und gesamten Naturwissenschaften haben sich seitdem fortentwickelt. Christian Laue erklärt in seiner Schrift "Evolution, Kultur und Kriminalität" (2010) zu Recht: "Neuere biokriminologische Ansätze, die sich etwa mit der Rolle von Hormonen oder Neurotransmittern beschäftigen, werden überwiegend nicht erwähnt. Im Gegenteil wird bei einigen Autoren die Beschäftigung mit biologischen Erklärungsversuchen ausdrücklich abgelehnt, sei es aus Kapazitätsgründen oder kategorisch mit dem Argument, Kriminalität sei ein soziales Phänomen und daher nur mit den Sozialwissenschaften zu erfassen." Laue stellt sie vor.[7]

Frank Neubacher betont noch in seinem Lehrbuch zur Kriminologie (2020), es hätten „Biokriminologie und Psychopathologie kaum noch einen Stellenwert“.[8] Behandelt wird aber in den Lehrbüchern, etwa auch von Neubacher selbst, das Thema Kriminalität und Geschlecht. Neubacher betont mit dem Stichwort „biologische Andersartigkeit“: so „richten Frauen im Allgemeinen weniger schwere Schäden an, sind seltener rückfällig und praktisch keine Karrieretäter (chronic offenders).“[9]

Der Rechtsanthropologe Axel Montenbruck greift der Sache nach beide Ansätze auf; er entwickelt auf der Basis der gegenwärtigen Naturwissenschaften eine gesamte "Naturalistische Kriminologie und Pönologie" (2021). Männliche Täter, die sich im Strafvollzug befinden, sind für ihn vor allem "Statusstäter". Kriminalität und Strafe entstammten den erfolgreichen evolutionsbiologischen Prinzipien von "Mutation und Selektion".[10] Zur Evolution der Wirbeltierinstinkte und die Säugetierhormone verweist er auf seine Schrift "Biologische Natur- und Spielethik. Wirbeltier-Instinkte und Säugetierhormone, Befreiung des aufrechten Kind-Primaten und des energetischen Feuer-Menschen, egalitäres Kind-Rollenspiel und hoheitliches Übereltern-Recht".[11]

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Christian Bachhiesl: Der Fall Josef Streck. Ein Sträfling, sein Professor und die Erforschung der Persönlichkeit (= Feldforschung. Band 1). 2. Auflage. Lit, Wien u. a. 2010, ISBN 978-3-8258-9579-2.
  • Christian Bachhiesl: Zur Konstruktion der kriminellen Persönlichkeit. Die Kriminalbiologie an der Karl-Franzens-Universität Graz (= Schriftenreihe rechtsgeschichtliche Studien. Band 12). Dr. Kovač, Hamburg 2005, ISBN 3-8300-2166-6 (zugleich: Graz, Universität, Dissertation, 2004).
  • Peter Becker: Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte. Band 176). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002, ISBN 3-525-35172-0 (zugleich: Göttingen, Universität, Habilitations-Schrift, 2000).
  • Peter Busse (Red.): Kriminalbiologie (= Juristische Zeitgeschichte NRW. Band 6). Justizministerium des Landes NRW, Düsseldorf 1997.
  • Nadine Hohlfeld: Moderne Kriminalbiologie. Die Entwicklung der Kriminalbiologie vom Determinismus des 19. zu den bio-sozialen Theorien des 20. Jahrhunderts. Eine kritische Darstellung moderner kriminalbiologischer Forschung und ihrer kriminalpolitischen Forderungen (= Würzburger Schriften zur Kriminalwissenschaft. 2). Peter Lang, Frankfurt am Main u. a. 2002, ISBN 3-631-38899-3 (zugleich: Würzburg, Universität, Dissertation, 2001).
  • Jürgen Simon: Kriminalbiologie und Zwangssterilisation. Eugenischer Rassismus 1920–1945 (= Internationale Hochschulschriften. Band 372). Waxmann, Münster u. a. 2001, ISBN 3-8309-1063-0 (zugleich: Münster, Universität, Dissertation, 2001).

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Horst Clages, Ines Zeitner Kriminologie. 3. Auflage. Deutsche Polizeiliteratur, Hilden 2016, ISBN 978-3-8011-0771-0, S. 24 ff. (Kapitel 1: Einführung in die Kriminologie) und S. 52 ff. (Kapitel 2: Kriminalitätstheorien).
  2. Richard F. Wetzell: Der Verbrecher und seine Erforscher: Die deutsche Kriminologie in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. In: Thomas Vormbaum (Hrsg.): Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte. Band 8 (2006/2007). Berliner Wirtschafts-Verlag, Berlin 2007, ISBN 978-3-8305-1471-8, S. 256–279, hier S. 256.
  3. Jürgen Simon: Einleitung. In: Ministerium der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Kriminalbiologie (= Juristische Zeitgeschichte Nordrhein-Westfalen. Band 6). Justizakademie des Landes NRW, 1997. Zitiert nach: Andrea Elisabeth Sebald: Der Kriminalbiologe Franz Exner (1881–1947): Gratwanderung eines Wissenschaftlers durch die Zeit des Nationalsozialismus (= Rechtshistorische Reihe. Band 380). Peter Lang, Frankfurt am Main 2008, ISBN 978-3-631-57975-6, S. 99 ff.
  4. Therese Stäcker: Der Begriff der Kriminalbiologie. In: dies.: Die Franz von Liszt-Schule und ihre Auswirkungen auf die deutsche Strafrechtsentwicklung (= Kieler Rechtswissenschaftliche Abhandlungen (NF). Band 66). Nomos, Baden-Baden 2012, ISBN 978-3-8329-7365-0, S. 119–120.
  5. Thomas Kailer: Vermessung des Verbrechers. Die Kriminalbiologische Untersuchung in Bayern, 1923–1945. Transcript, Bielefeld 2014, ISBN 978-3-8394-1614-3.
  6. Andrea Elisabeth Sebald: Der Kriminalbiologe Franz Exner (1881–1947): Gratwanderung eines Wissenschaftlers durch die Zeit des Nationalsozialismus (= Rechtshistorische Reihe. Band 380). Peter Lang, Frankfurt am Main 2008, ISBN 978-3-631-57975-6, S. 61.
  7. Christian Laue: Evolution, Kultur und Kriminalität, Kapitel: "Kriminalität und Biologie", Zusammenfassung, ISBN 978-3-642-12688-8, Springer, 2010, 17–58.
  8. Frank Neubacher: Kriminologie, 4. Auflage Nomos Verlag, ISBN 978-3-8452-8666-2., 2020, 1. Kap. Rn 22
  9. Neubacher, Kriminologie, 2020, 7. Kap. Rn 1 und 4.
  10. Axel Montenbruck: Naturalistische Kriminologie und Pönologie. Natürlichkeit und Nutzen von Verbrechen und Strafe, Kooperation und Strafspieltheorie, Theaterprozesse und Tat-Erinnerungen, Status- und Glückstäter, Freeze-Vollzug und Feminisierung, Open Access der Freien Universität Berlin, [1] ISBN 978-3-96110-375-1, 1. Kap. II, S. 36, bzw. 11. Kap III, S. 293 ff.
  11. Montenbruck, Biologische Natur- und Spielethik, Open Access der Freien Universität Berlin, [2] ISBN 978-3-96110-373-7, 2021, 2. Kap, 3. Kap, 4. Kap.