Fragmenta Vaticana

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Die Fragmenta (iuris) Vaticana (fragmenta quae dicuntur Vaticana; kurz: Vat.) sind die von Rechtshistorikern so benannten, durch die Handschrift des Vatikans bekannt gewordenen Überbleibsel eines aus dem 4. Jahrhundert stammenden, umfangreicheren juristischen Privatwerkes, in welchem Juristenschriften (iura) sowie Kaiserentscheidungen (Constitutiones principum) kompiliert waren.[1][2] Diese bilden für die rechtshistorische Forschung einen wertvollen Rechtsbestand, weil die paraphrasierten Texte nicht mittels erläuternder Zusätze nachgearbeitet wurden. Die Handschrift ist ein Erzeugnis des nachklassischen Rechts.

Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In der nachklassischen Zeit des 4. Jahrhunderts war man dazu übergegangen, aus den großen Stoffmassen der klassischen juristischen Literatur eine neue Literaturgattung zu schaffen, Sammelwerke mit Zitaten. Neue Literatur wurde kaum mehr geschaffen und die Jurisprudenz hatte ihren Einfluss auf die Kaiser an das Militär verloren. Parallel zu diesen Ereignissen wurde die Literatur bewusst auf wenige anerkannte Meinungen komprimiert, was sich zusammengefasst in den Zitiergesetzen äußerte. Die Stoffmassen waren zu groß und zu unübersichtlich geworden, als dass sie nicht verkürzt und zusammengefasst hätten werden müssen. Außerdem sollten die Provinzen, in denen Rechtsliteratur oft fehlte, ausgestattet werden.[3] Einen typischen Vertreter dieser Literaturgattung repräsentieren die hier beschriebenen vatikanischen Fragmente.

Entdeckt wurden sie 1820[1] oder 1821[4] von Kurienkardinal Angelo Mai, der sich in den 1810er Jahren als Experte der Manuskriptforschung einen Namen gemacht hatte. Seit 1819 stand er der Bibliotheca Apostolica Vaticana schließlich als Präfekt vor. Bei seinen Arbeiten stieß er auf ein auf Palimpsestblättern inskribiertes bruchstückhaftes Werk, das den Namen seines Aufbewahrungsorts erhielt und die Siglen Vat. Lat. 5766, fol. 17–24, 58–63 und 82–100 trägt.[5]

Über den Verbleib des 320 n. Chr. entstandenen[1] Werkes ist bis zu seiner Entdeckung nahezu nichts bekannt. Im 8. Jahrhundert verschwand das einzige bekannte Exemplar aus dem 614 gegründeten Benediktinerkloster St. Kolumban in Bobbio,[2] das dem nach 568 begründeten langobardischen Hoheitsgebiet zugehörte. Das Werk, das ursprünglich Auszüge der juristischen Klassikerliteratur Papinians, Paulus’ und Ulpians enthielt, war mit Texten von Johannes Cassianus[4] überschrieben worden. Unter Papst Paul V. gelangte es 1618 in den Vatikan, bevor Angelo Mai sich etwa 200 Jahre später dann der Handschrift annahm.

Welche Autorenschaft das Werk kompiliert hat, liegt im wissenschaftlichen Dunkel. Es wird allein davon ausgegangen, dass es sich um eine private und keine hoheitlich autorisierte (und damit offizielle) Textsammlung handelte. Herkunftsindizien und Promulgationsangaben (im 4./5. Jahrhundert wurden Gesetze regelmäßig im Trajansforum verkündet) weisen nach Rom. Die Kompilatoren stießen auf diverse Schwierigkeiten, denn die Jahre zwischen 305 und 319 waren vom verwickelten Mit- und Gegeneinander kaiserlicher Legislativaktionen geprägt, die sich auf ihre Inskriptionen ausgewirkt haben dürften. Abdankung, Reaktivierung, Vertreibung, Divinisierung, Verurteilung und Wiedervergöttlichungen waren an der Tagesordnung, was zu Weglassungen, Einfügungen, Zitatsabänderungen und Reimporten führte. Inkonsequent wurde etwa das Andenken Maximians getilgt (Nachträge).[6] Schwerwiegend war die damnatio memoriae des Kaisers Licinius,[7] denn es musste neben den Inskriptionen auch in die Subskriptionen eingegriffen werden. Inkonsequenzen führten zu unterschiedlichen Handhabungen beim Umgang mit auszumerzenden Augustustiteln.[8]

Die Fragmenta iuris Vaticana fallen in die Frühphase der sich gerade etablierenden Christianisierung, in etwa ist das die Zeit der konstantinischen Wende. Zu Zeiten einer weiteren anonym-privatrechtlich verfassten Sammlung, welche als Collatio geführt wird, war das Christentum jedenfalls bereits Staatsreligion. Beide Werke gelten als wichtige Vorläufer der umfassenden justinianischen Gesetzessammlung des mittleren 6. Jahrhunderts, dem später so genannten Corpus iuris civilis.

Inhalt der Sammlung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Teils durch sehr große, teils durch kleinere Lücken unterbrochen, befasste sich das Werk inhaltlich nachweislich mit den klassischen Themen des römischen Privatrechts: Stellvertretung, Kauf, Nießbrauch, Mitgift, Vormundschaft und Schenkung. Als Quellenmaterial lassen sich Exzerpte aus den großen Kommentarwerken (libri ad Sabinum und libri ad edictum), sowie aus Responsensammlungen (Quaestiones) der Klassiker ausmachen, ebenso Paraphrasen aus Monographien, etwa Ulpians libri de officio proconsulis, libri de officio praetoris tutelaris, und Paulus’ sententiae, manualia, beziehungsweise breve edictum und anderen (Stephan Brassloff).

Seiner Konzeption nach und aufgrund des Untergangs großer Skriptteile wird davon ausgegangen, dass die Sammlung – vergleichbar den justinianischen Digesten – groß angelegt war[9] und ursprünglich alle bekannten Rechtsgebiete abdeckte.[1] Weder der Anfang noch der Schluss der Sammlung sind ursprünglicher Natur. Umstritten war und ist, ob die Handschriften für die Gerichtspraxis oder für das Unterrichtswesen bestimmt waren.[10] Anlass dazu gab die Intensität der in den Schriften geführten Problemdiskussionen (disputationes und quaestiones). Weitgehend ist heute jedoch anerkannt, dass vornehmlich Praktikerliteratur exzerpiert war, wenngleich vereinzelte (später eingefügte) Scholien auf juristischen Unterricht hindeuten.[11] Deutlicher Edukationsbedarf schien erkennbar in Bezug auf den Titel Schenkungswiderruf bestanden zu haben.[12] Das Werk ist sehr selbständig aufgebaut, angelehnt an die Unterrichtswerke der severischen Spätklassiker, und unterliegt keiner der gängigen Formen des Edikt-, Digesten- oder Codexsystems.[13]

Das Sammelwerk enthielt etwa 54 Kaiserkonstitutionen, die im Wesentlichen auf die Jahre 205–320 verstreut sind. Zwei weitere Gesetze datieren aus den Jahren 330 und 369, die deshalb nicht zum Ursprungsbestand gehörten. Sie tragen die Handschriften der Kaiser Konstantin und Valentinian und befassten sich thematisch mit der Rechtsfigur der Verwirkung einer Emanzipation bei Schenkungswiderruf beziehungsweise mit einem Kaufrechtsänderungsgesetz.

Von den Juristen waren dem Forschungsstand nach allein die bereits genannten Juristen Papinian, Paulus und Ulpian exzerpiert, daneben gab es vereinzelte pseudopaulinische Sentenzen. Auch hier wurde zu späteren Zeitpunkten nachgebessert. Wenige Inskriptionen – wie die zum Nießbrauch – fallen gegenüber dem Parallelmaterial deshalb aus dem Rahmen, weil sie eine große Ausführlichkeit aufweisen und damit einen stilistischen Bruch zum formalen Kontext darstellen. Sie deuten auf einen späteren Zusatz hin. Eingefügt wurden dabei Präzisierungen zu den Titeln der „Vormundschaftsablehnung“ und des „Schenkungswiderrufs“. Im Gegensatz zum später so genannten Corpus iuris civilis, wurden die Texte nicht verändert, bereits eingedrungene Glosseme blieben allerdings eingeschlossen.[1]

Einen lediglich kleinen Anteil am Werk bilden die epitomisierten Passagen der Kodizes Gregorianus und Hermogenianus.[14] Die Forschung macht es daran fest, dass nur spärliche Verweise aus den Büchern in den vatikanischen Skripten enthalten sind und dass bei einer Vielzahl von Reskripten lediglich acht von Kaiser Diokletian aus der Zeit der frühen 290er Jahre stammen.

Der Umfang muss sich auf etwa 600 Seiten DIN A5 erstreckt haben, was etwa 20 Normallibri entspräche. Allerdings gab es keine libri, vielmehr nicht nummerierte Sachtitel (Kolumnentitel).[1]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Anmerkungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b c d e f Detlef Liebs: Die Jurisprudenz im spätantiken Italien (260–640 n. Chr.), Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen, Neue Folge, Band 8, Duncker & Humblot, Berlin 1987, S. 150–162.
  2. a b Theodor Mommsen: Codicis Vaticani N.5766. in quo insunt iuris anteiustiniani fragmenta quae dicuntur Vaticana. Exemplum addita transcriptione notisque criticis edidit. Berlin 1860, in: Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Philol.-hist. Klasse, 1859, S. 265 ff; 381 f. mit Einordnung des Werks S. 379–408.
  3. Uwe Wesel: Geschichte des Rechts. Von den Frühformen bis zur Gegenwart. 3. überarbeitete und erweiterte Auflage. Beck, München 2006, ISBN 3-406-47543-4. Rn. 156.
  4. a b Jochen Bleicken: Verfassungs- und Sozialgeschichte des römischen Kaiserreiches. Band 1, UTB Paderborn, u. a., Schöningh 1981, ISBN 3-506-99256-2, S. 272.
  5. Edition: Paul Krüger, Theodor Mommsen, Wilhelm Studemund: Collectio Librorum Juris Anteiustininae, III, S. 1 ff.
  6. Laktanz: De mortibus perscutorum (Die Todesarten der Verfolger), 41,2 (übersetzt und eingeleitet bei Jakob Speigl, Turnhout 2003), siehe CIL II 1439.
  7. Vat. 34 und 35: Licinius steckt dort nur noch im Plural der Teilsumme seiner Titel: consulibus,
  8. Vat. 32, 33 und 274.
  9. Wolfgang Kunkel, Martin Schermaier: Römische Rechtsgeschichte, 14. Auflage. UTB, Köln/Wien 2005, § 12 (Das Recht der römischen Spätzeit, Kapitel 4, Die Renaissance des klassischen Rechts), S. 192.
  10. Gerichtswesen: Wilhelm Felgentraeger: Zur Entstehungsgeschichte der Fragmenta Vaticana, S. 28 ff. (daran angelehnt: Detlef Liebs); Unterrichtswesen: Franz Wieacker, Textstufen klassischer Juristen, 147 zzgl. Fn. 65; Max Kaser, Zum heutigen Stand der Interpolationenforschung, in SZ 69 (1952) 77.
  11. Abschließende Anzahl von Scholien für das Kauf-, Mitgift-, Schenkungsrecht: Vat. 5 (Kauf); Vat. 108, 112, 113 und 121 (Mitgift); Vat. 249,6 (Schenkung); kein Scholion vorhanden für die Titel Stellvertretung, Nießbrauch und Vormundschaftsablehnung (zusammengestellt in: Detlef Liebs: Die Jurisprudenz im spätantiken Italien (260–640 n. Chr.), Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen, Neue Folge, Band 8, Duncker & Humblot, Berlin 1987, S. 154.).
  12. Abschließende Anzahl von Scholien allein für den Schenkungswiderruf: Vat. 266a, 269, 270, 271, 272 (bis), 273, 280, 281, 282, 285, 286, 288, 294, 295, 296, 297, 312, 313 (bis), 314, 315 und 316 (zusammengestellt in: Detlef Liebs: Die Jurisprudenz im spätantiken Italien (260–640 n. Chr.), Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen, Neue Folge, Band 8, Duncker & Humblot, Berlin 1987, S. 154.).
  13. Detlef Liebs: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Band II 15, S 234 f. mit Verweis auf Ablehnung der entgegenstehenden Auffassung Theodor Mommsens; Bezug genommen wird auf die Unterrichtswerke der Spät- und Epiklassiker Paulus, Marcian, Modestin und Florentin.
  14. Jan Dirk Harke: Römisches Recht. Von der klassischen Zeit bis zu den modernen Kodifikationen. Beck, München 2008, ISBN 978-3-406-57405-4 (Grundrisse des Rechts), § 1 Rnr. 21 (S. 16 f.).