Digestensystem

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Das Digestensystem (auch als Codexsystem bezeichnet) ist eine nach einem weitgehend einheitlichen Schema übersichtlich geordnete spätantike Sammlung von Rechtstexten und Kaiserkonstitutionen des römischen Rechts, die alle Rechtsgebiete erfassen. Der Begriff wird nach allgemeiner Auffassung für die spätantiken Codices Gregorianus, Hermogenianus, Theodosianus, Iustinianus und die Digesten gebraucht.[1] Die Bezeichnung Codexsystem bietet sich an, weil das neue Gliederungsprinzip Kaiserkonstitutionen enthielt.[2] Die teils (erheblich) gekürzten Werkstexte folgen keiner Systematik, wie wir sie heute kennen, die Ordnung ist eher lose und fügt sich in hergebrachte Muster ein. Immer wieder wurde von der Technik auch abgewichen. Damit wirkt die Strategie weiter auseinander als etwa die Systeme Scaevolas und Julians oder Celsus’ und Marcellus’.[3]

Nachweisbar ist das Digestensystem bereits seit der bindenden Gestaltung des prätorischen Edikts, einer feststehenden Redaktion des Gerichtswesens, die auf Anordnung Hadrians erging. Durch die Festschreibung des Rechtsschutzprogramms konnten spätere (gleichartige) Kommentare und Rechtsauskünfte so eingegliedert werden, dass sie für die praktische Anwendung bei Bedarf zügig gefunden werden konnten.

Für die Werksüberschreibungen wurde gelegentlich der Titel Digesta („Geordnetes“) gewählt. Darin befanden sich – außerhalb der kaiserlich-hoheitlichen Anordnungen – viele hoch- und spätklassische Juristenschriften mit abgrenzbaren Problemstellungen, etwa Rechtsbescheide (responsa), Erörterungen diverser Fallgestaltungen (quaestiones) und anderes mehr. Nachdem bereits Otto Lenel das prätorische Edikt 1883 rekonstruieren konnte, prägte Paul Krüger 1886 dann den Terminus „Digestensystem“[4] in Anlehnung an die naheliegende Methodik zur Abgrenzung von Gaius- gegenüber Sabinus- oder Scaevola-Texten für die Rechtsbücher. Weitere Ausführungen dazu nahm dann wieder Otto Lenel 1889 mit seiner Palingenesia iuris civilis vor.[5]

Eine innere Logik sei bei der Abfolge der Rechtsmaterien nicht zu erkennen. Auch hingen nach Krügers Auffassung die einzelnen Kapitel nicht miteinander zusammen. Die Abfolge habe sich gleichwohl etabliert und dies in zwei Buchteilen: Iulian eröffnet den ersten Teil; dessen Umfang ist zu zwei Dritteln durch das prätorische Edikt geprägt, etwas durchsetzt mit ius honorarium beziehungsweise ius civile,[6] wobei sich Krüger und Lenel in Ansehung des gesamten ersten Teils bezüglich der Rechtsschichten uneinig darüber waren, mit welcher Schwerpunktsetzung.[7] Der zweite Teil enthält Sachenrecht und (Auskunftsmittel zum) Erbrecht, Intestaterbrecht, (hergebrachtes) Gewohnheitsrecht (typischerweise Familienhausrechte), neues Kriminalstrafrecht, Fiskal- (ius fisci) und Militärrecht. Angeknüpft wurde bisweilen an Gesetze, so an das Zwölftafelgesetz, die leges Corneliae, Cinicia, Falcidia, Fufia Caninia und andere mehr. Aufgenommen waren zudem Senatskonsulte.

Spätere Autoren – des Mittelalters und der Neuzeit – knüpften an die Ordnungsbemühungen nicht mehr an. Die Autorität des Ediktsystems reflektierte eher auf Kaiser Hadrian, als auf das Prinzip der Systematik. Die Orientierung im Privatrecht wurde am Institutionensystem ausgerichtet, weil Justinian daran festgehalten hatte. Einen gänzlich neuen Ansatz suchte die preußische Kodifikation des Allgemeinen Landrechts. Sie begann mit den Rechtsverhältnissen zu den „Personen“, dann folgten die Rechtskonstellationen zu den (kleineren) „Gemeinschaften“ wie Ehe und Familie, später Herrschaft und Gesinde, Stände, Berufsgemeinschaften und anderen, schließlich wurden Rechtsverhältnisse zum Staat thematisiert.[8]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Detlef Liebs: Die Jurisprudenz im spätantiken Italien (260–640 n.Chr.) (= Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen. Neue Folge. Band 8). Duncker & Humblot, Berlin 1987, S. 30–34; S. 134–144.
  • Detlef Liebs: Das Codexsystem. Neuordnung des römischen Rechts in nachklassischer Zeit. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Romanistische Abteilung. Band 134, Heft 1, 2017, S. 409–443.
  • Benedikt Forschner, David Haubner: Kein Volk der Gesetze: Anmerkungen zu Mantovanis These der legum multitudo im römischen Privatrecht. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Romanistische Abteilung. Band 136, Heft 1, 2019, II.5, S. 322–344 (337 f.).

Anmerkungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Stellvertretend für den Meinungsstand, diesen selbst aber kritisch hinterfragend, Detlef Liebs: Das Codexsystem. Neuordnung des römischen Rechts in nachklassischer Zeit. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Romanistische Abteilung. Band 134, Heft 1, 2017, S. 409–443, hier S. 409–413 (409); 413 ff.
  2. So schon Detlef Liebs: Hermogenians Iuris Epitomae. Zum Stand der römischen Jurisprudenz im Zeitalter Diokletians. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1964, S. 26–28 und 115–130.
  3. Detlef Liebs: Das Codexsystem. Neuordnung des römischen Rechts in nachklassischer Zeit. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Romanistische Abteilung. Band 134, Heft 1, 2017, S. 409–443, hier S. 439; Jean Gaudemet: Tentatives de systématisation du droit à Rome, Index 15 (1987) S. 90 f. nannte sie „aléatoires“ (Zufallsprodukte).
  4. Paul Krüger: Ueber die Zusammensetzung der Digestenwerke, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Romanistische Abteilung. Band 7, Heft 2, 1886, S. 94–106, Tabelle S. 103. Aufgegriffen von Fritz Schulz: Geschichte der römischen Rechtwissenschaft, 1961, S. 285; Franz Wieacker: Römische Rechtsgeschichte. Quellenkunde, Rechtsbildung, Jurisprudenz und Rechtsliteratur. Abschnitt 2: Die Jurisprudenz vom frühen Prinzipat bis zum Ausgang der Antike im weströmischen Reich und die oströmische Rechtswissenschaft bis zur justinianischen Gesetzgebung. Ein Fragment. Aus dem Nachlass von Franz Wieacker, hrsg. von Joseph Georg Wolf. Mit einer Bibliographie von Ulrich Manthe. Unter Mitarbeit von Marius Bolten, Beck, München 2006, ISBN 978-3-406-33928-8. S. 93.
  5. Otto Lenel: Palingenesia iuris civilis, 2 Bände. Leipzig 1887–1889.
  6. Géza Alföldy: Konsulat und Senatorenstand unter den Antoninen, 1977, besonders S. 44.
  7. Detlef Liebs: Das Codexsystem. Neuordnung des römischen Rechts in nachklassischer Zeit. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Romanistische Abteilung. Band 134, Heft 1, 2017, S. 409–443, hier S. 411.
  8. Detlef Liebs: Das Codexsystem. Neuordnung des römischen Rechts in nachklassischer Zeit. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Romanistische Abteilung. Band 134, Heft 1, 2017, S. 409–443, hier S. 441–443.