Abschalteinrichtung

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Eine Abschalteinrichtung bezeichnet im Fahrzeugbau eine Vorrichtung, welche die Abgasreinigung abschaltet. Ihre Verwendung bei der Abgasreinigung von Verbrennungsmotoren ist durch den VW-Abgasskandal in der breiten Öffentlichkeit bekannt geworden. Alternativ wird auch von Thermofenster gesprochen, wenn die Abschalteinrichtung nur bei bestimmten Temperaturen aktiviert wird.

Abschalteinrichtungen in der Abgasreinigung von Fahrzeugen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In Kraftfahrzeugen mit Verbrennungsmotoren werden Abgasreinigungsanlagen eingesetzt, um den Ausstoß von schädlichen Stoffen in den Abgasen zu senken. Diese werden mit Abschalteinrichtungen versehen, die unter bestimmten Betriebsbedingungen Teile der Abgasreinigung außer Funktion setzen, um den Betrieb des Motors unter Inkaufnahme erhöhter Abgaswerte auch unter diesen Bedingungen aufrechtzuerhalten. Derartige Abschalteinrichtungen bestehen aus einer Kombination von einer Zykluserkennung unter Verwendung mindestens einer Messeinrichtung oder eines Timers in einem Steuergerät (etwa auf Dauer des Fahrzyklus programmiert) und der eigentlichen Abschaltfunktion, die auf ein Stellglied einwirkt, die in das Emissionskontrollsystem des Fahrzeugs eingreift.

Oft schaltet bei einer Abschalteinrichtung die Motorsteuerung auf ein entsprechend schadstoffarmes Kennfeld um. Im Alltagsbetrieb wird dieses Kennfeld nicht benutzt.[1] Abschalteinrichtungen können aber auch bewirken, dass ein Automatikgetriebe bei Abgasmessungen anders schaltet, als während der Fahrt.[2]

Ist die Abschalteinrichtung so programmiert, dass die „Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind, verringert wird“,[3] ist sie in der EU grundsätzlich unzulässig (sogenannte Schummelsoftware). Sinngemäß ähnliches gilt für die USA. Ausnahmen bestehen nur zum Schutz des Motors vor Beschädigung, beim Anlassen des Motors sowie unter Bedingungen, die im festgelegten Prüfverfahren im Wesentlichen enthalten sind.[4] Die bisherige Praxis vieler Hersteller, quasi jegliche Abschalteinrichtungen, insbesondere eingeschränkte Temperaturbereiche (Thermofenster), mit Motorschutz zu rechtfertigen, ist unzulässig.[5] Als erstes deutsches Gericht stufte das Landgericht Köln am 29. Dezember 2020 in einem Verfahren gegen die Volkswagen AG die Motorsteuerungssoftware (in diesem Fall V-TDI-Motor EU4) als unzulässige Abschalteinrichtung ein. Durch den Einbau der unzulässigen Abschalteinrichtung sei das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) bewusst getäuscht worden; zugleich habe sich die Volkswagen AG sittenwidrig gegenüber dem klagenden Käufer verhalten. Wie die Rechtsanwaltskanzlei Decker & Böse als Klägervertreter berichtete, sei durch das Verfahren klar geworden, dass der VW-Abgasskandal offenbar eine viel größere Dimension habe als bislang bekannt.[6][7]

Die Abgrenzung einer unzulässigen Abschalteinrichtung, die abhängig von der Erkennung eines Fahrzyklus deaktiviert wird, von einer Abschalteinrichtung zum Schutz von Motor und Komponenten ist schwierig. Bei enger Kopplung an die Bedingungen des Fahrzyklus (Umgebungstemperatur[8], Strecken-/Geschwindigkeits-Zeit-Verlauf[9], Lenkwinkel[10]) liegt der Verdacht nahe, dass es sich um ersteres handelt. Seit 2016[11] müssen in der EU die Arten und Bedingungen für unterschiedliches Vorgehen zum Abgasverhalten (sogenannte Base emission strategy (BES) und Auxiliary emission strategy (AES)) gegenüber der Zulassungsbehörde offengelegt werden. Mit der Einführung des Nachweises der Emissionen im praktischen Fahrbetrieb in der EU ist ein Zuschnitt auf die genauen Bedingungen des Fahrzyklus deutlich erschwert.

Ein systematischer Verstoß gegen dieses Verbot von Abschalteinrichtungen war 2015 Grundlage des VW-Abgasskandals. Der Einsatz derartiger Technik fand jedoch mindestens seit 1973 statt und betraf auch andere Fahrzeughersteller wie Chrysler, General Motors, Toyota, Cadillac, Honda und BMW[12][13][14][15][16][17] und auch LKW-Hersteller[18].

Bekannt geworden sind Abschalteinrichtungen v. a. bei den Motorenreihen EA189, EA288, EA897 des VW-Konzerns sowie OM642 und OM651 des Daimler-Konzerns. Emissionsmessungen der Deutschen Umwelthilfe an weiteren Fahrzeugen auch anderer Hersteller zeigten auffällige Überschreitungen der gesetzlichen Grenzwerte im realen Fahrbetrieb.[19]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Margret Hucko, Jürgen Pander: VW-Manipulation in den USA: Der schmutzige Trick mit den Abgaswerten. Der Spiegel, 22. September 2015, abgerufen am 19. Dezember 2020.
  2. Millionenbußgeld für ZF wegen Diesel-Abgasmanipulation. In: Handelsblatt. 10. Juni 2020, abgerufen am 7. November 2023.
  3. Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 (PDF) vom 20. Juni 2007.
  4. Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 vom 20. Juni 2007.
  5. Press Release No 170/20, Judgment in Case C - 693/18. (PDF) Europäischer Gerichtshof, 17. Dezember 2020, abgerufen am 21. Dezember 2020 (englisch).
  6. Az: 2 0 92/20 des LG Köln. In: db-anwaelte.de. 29. Dezember 2020, ehemals im Original (nicht mehr online verfügbar); abgerufen am 25. Januar 2021.@1@2Vorlage:Toter Link/www.db-anwaelte.de (Seite nicht mehr abrufbar. Suche in Webarchiven)
  7. Ulf Böse: VW Abgasskandal — Urteil: Fahrzeuge aus 2005-2020 mit Thermofenster manipuliert. In: db-anwaelte.de. Decker & Böse Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, 21. Januar 2021, abgerufen am 25. Januar 2021.
  8. Lukas Bay: Diesel-Betrug: Der Schmutz hinter dem Thermofenster. In: wiwo.de. Abgerufen am 22. April 2019.
  9. Moritz Contag, Guo Liy, Andre Pawlowski, Felix Domke, Kirill Levchenkoy,Thorsten Holz, Stefan Savage: How They Did It: An Analysis of Emission Defeat Devices in ModernAutomobiles. (PDF) In: IEEE Security & Privacy 2017, San Jose. 22. Mai 2017, abgerufen am 22. April 2019 (englisch).
  10. FOCUS Online: Du wirst nicht glauben, wie simpel der Schummel-Trick von VW funktionierte - Video. Ehemals im Original (nicht mehr online verfügbar); abgerufen am 22. April 2019.@1@2Vorlage:Toter Link/www.focus.de (Seite nicht mehr abrufbar. Suche in Webarchiven)
  11. Maßnahmen der Bundesregierung zur dauerhaften Sicherung der Konformität typgenehmigter und in Betrieb befindlicher Pkw in Deutschland. (PDF) Bundesregierung, 7. Juli 2016, abgerufen am 22. April 2019.
  12. VW emissions 'defeat device' isn't the first. Previous regulatory actions snared GM, Ford, Honda for emission rules violations. In: autoweek.com. 24. September 2015, abgerufen am 24. September 2021 (englisch).
  13. CADILLACS RECALLED TO REMOVE ILLEGAL DEVICE. In: The Buffalo News. 1. Dezember 1995, ISSN 0745-2691.
  14. Clean Air Act Prohibits “Defeat Devices” in Vehicles, Engines. (pdf) Honda to Spend $267 Mil, Ford $7.8 Mil. to Settle Charges. EPA, 1998, abgerufen am 24. September 2021 (englisch).
  15. Defeat Gate auch bei Funduro-Maschine? Hat auch BMW eine Software eingesetzt, um die Abgaswerte zu manipulieren? Ja, meint der Chefredakteur der Zeitschrift "Motorrad". Bei der "Funduro-Maschine" F 650 GS konnte dies im Jahr 2000 nachgewiesen werden. Doch die Dinge liegen hier trotzdem anders als bei Volkswagen... In: tagesspiegel.de. 4. Dezember 2015, ehemals im Original (nicht mehr online verfügbar); abgerufen am 24. September 2021.@1@2Vorlage:Toter Link/www.tagesspiegel.de (Seite nicht mehr abrufbar. Suche in Webarchiven)
  16. Topfreiniger. Wie sauber ist die F 650 GS wirklich, fragte MOTORRAD in Heft 10. Jetzt musste die BMW samt Konkurrenz noch einmal auf den Abgasprüfstand. In: Motorrad. 2000, archiviert vom Original; abgerufen am 24. September 2021.
  17. Ingmar Lippert: Umwelt – »Version 2b«: Das Programmieren ökologischer Fehlentscheidungen und Grundlagen für eine neue Umweltpolitik. In: Leviathan. 44. Jahrgang, Nr. 3, S. 399–427, doi:10.5771/0340-0425-2016-3-399 (researchgate.net).
  18. VW just the latest in long history of cheating car companies. In: Chicago Tribune. Abgerufen am 22. April 2019 (amerikanisches Englisch).
  19. NOx- und CO2-Messungen im realen Fahrbetrieb. (pdf) Deutsche Umwelthilfe e.V., 12. Juli 2021, abgerufen am 10. November 2022.